August 2005


Sie heissen Anna oder Hanni, Ursula, Marie, Rosa, manchmal auch Adèle, die verdienstvollen Lehrgotten, deren Nachrufe und Trauerreden ich gerade katalogisiere. Meist findet man vorne in den schmalen Bändchen ein Porträt der Verblichenen. „Nie erlahmende Einsatzbereitschaft“, „vorbehaltlose Hingabe“, „ausgezeichnete Fähigkeit, den Anschluss an die Gefühls- und Gedankenwelt der anderen zu finden mit selbstverständlicher Fröhlichkeit“, so priesen die Pfarrer im Krematorium Schaffhausen, Aarau, St. Gallen, Bern das verstorbene „Fräulein“.
Die Gedenkschriften verheirateter Frauen sind vornehmer, umfangreicher. Die Verstorbenen hatten meist mehrere Vornamen, auch Spitznamen für den Familien- und Freundeskreis wie Micky, Teiggi, Lelly … Die Schrift enthält Familienbilder, Fotos von Stadthäusern, Ferienhäusern in den Bergen, am See, am Meer, und oft blieb zuletzt auch nur noch ein Zimmer, vollgestopft mit Ölbildern, Ständerlampe, Sekretär, Zimmerpflanze, Zinnkrügen, Neuenburger-Pendule und Fernseher.

Sterben kostet Geld und frisst oft den letzten Rest des Vermögens, schwupps, den Erben vor der Nase weg. Wer es sich eigentlich nicht leisten könnte und trotzdem in der Gemeinde Bern den Löffel abgibt, kommt in einen Armensarg aus Schweizerholz. Lothar hat für preiswerten Vorrat gesorgt. Anscheinend geht dieser nach fünf Jahren nun zu Ende und Bern prüft eine neue Billigvariante aus Polen.
Um eine eventuelle Welle der Empörung in der Bevölkerung zu vermeiden und die Abstimmung vom 25. September nicht zu gefährden, denkt man aber eher daran, sinnvolle 1000-Franken-Jobs für Arbeitslose zu schaffen. Sie lernten dann, ihren eigenen Sarg zu schreinern. (Ausserdem ist der Beruf des Sargnaglers krisensicher). Weibliche Erwerbslose bekämen die Gelegenheit, Sargkissen und Leichenhemden zu nähen. Mit ein bisschen gutem Willen wäre der Preis von 408.90 pro Armenbestattung sicher noch zu drücken, ohne dass die Qualität darunter leiden müsste, denn Schweizerqualität verlangen die Leute eben von der Wiege bis zur Bahre.

diesmal, nicht Luftröhre.
Herr Abendschein stellt Fragen.
Die Antwort hingegen liegt nah.

Ein Mann hat Krebs und muss den Kehlkopf entfernen lassen. Genesen wird er nie mehr ganz, Urlaub hatte er im gesunden Leben gemacht und das ist nicht mehr. Nein, den Arzt mag er danach nicht fragen, jedes knarzende Wort ist eines zuviel. Da hört die Ehefrau von ihrer brustkrebskranken Freundin, dass man im Internet Rat findet. Es gebe Foren und Selbsthilfegruppen, mehr als man sich vorstellen könne. Schon ein paar Stichworte würden einen auf die richtige Fährte bringen. Die Ehefrau geht hin zur Tochter an den Computer und fragt nach Google. Sie sieht das Eingabefenster und schreibt, worüber sie etwas erfahren will: „urlaub ohne kehlkopf“.

Heidideldei! Der grösste Bagger wurde endlich gefunden! Nur er allein kann die Autos aus der Fahrtrinne für die Rettungsboote schieben! Und woher musste man ihn holen, woher? Bei uns auf der hier oft erwähnten Brünnenbaustelle. Lasst uns Bagger austauschen, Gräben zuschütten, zwischen Altstadt und Ghetto, zwischen Ost und West, Stadt und Land. Guten Morgen, schweizer Solidarität.

In bunten Blumenblusen, besteckt mit Goldbroschen, die Dauerwellen in einem zarten Blau getönt, trippelten sie in den letzten Tagen zum Tor herein, die greisen Bernerinnen. Ihre Stammplätze der Aare entlang, die lieben Beizen samt Apfelkuchen und Streichelzoo stehen unter Wasser. Heute war gerade so ein Wetterchen für ein Spaziergängli mit Besüchlein auf dem Hügel. Während ihre ärmeren AltersgenossInnen unten in der Matte aus ihren Dachfenstern gezogen und mit dem Helikopter ins Trockene gebracht wurden, sassen Mesdames im Garten bei den Rosen und ezählten von ihren „Harten Zeiten“ im Leben. Das war im Krieg. Sie gehörten zum FHD, zum Frauenhilfsdienst, dienten in der Armee als Rotkreuzfahrerinnen und nahmen die „Geistige Landesverteidigung“ als liebe Pflicht. Tonnen von Soldatensocken haben sie gestrickt und General Guisan und das Pferd persönlich gekannt. Wirklich, ein netter Nachmittag.
Die Abendnachrichten heiterten mich nicht auf. Überall unpassierbare Verkehrswege: „Die Lastwagen werden im Tropfsystem in die Strasse eingespiesen“, teilt mir die Sprecherin von SFDRS mit.
So sind sie sicher besser verdaulich.

Wir sitzen vor dem Internet-TV und sind froh, im Block zu wohnen. Wir reden über den überkantonale Unwetterfonds oder wie immer er auch heisst, der gespiesen wird aus den uneingelösten Banknoten, jawohl, so etwas gibt es in der Schweiz. Und die Kantone, die es am härtesten trifft mit dem Unwetter, bekommen daraus etwas. Die Bedingungen würde Bern jetzt
definitiv erfüllen und auch das Oberland, das sowieso. Alle Kinder hocken abgeschnitten in den ländlichen Mehrzweckhallen, die teuer sind und die Landschaft verschandeln, weshalb wir Städter oft genug gemurrt haben. Aber jetzt sind wir im gleichen Boot, sofern überhaupt eins frei ist. Und wir hoffen ja, dass 3rds neue Gutmenschenschule an der Aare überhaupt noch steht und sein Material für das „Ich-Plakat“ vielleicht – gewellt zwar – aber doch irgendwie auffindbar sein wird, sollte das Wasser je wieder abfliessen. Aber in der momentanen Situation ist nichts mehr sicher, die Fluten liessen sich heute von den Sonnenstrahlen nicht beim Steigen und Reissen stören. Zuletzt überlegen wir noch, warum die Swisscom, unsere schwerreiche nationale Telefongesellschaft, nicht daran gedacht hat, ihre Zentrale in Thun wasserdicht zu machen und auch, ob Schröder seine Gummistiefel aus dem letzten Wahlkampf noch in Griffnähe hat. Dann trinken wir so viele Gläser Ferienwein wie nötig.

in 3rds neuer Schule (ja, die Gutemenschenschule) ist die Aare gekommen. 2nd male ist überzeugt, dass das nur passiert, weil der gute Fluss ob der elenden Einfamilienhäuslibauerei in einen starren Kännel getrieben wird, darum komme er dann halt hier im Aarebogen über die Ufer. Jedenfalls hat 3rd seinen Pultinhalt gepackt, dann zugeschaut wie die Werkräume sich langsam mit brauner Sosse füllten und die liebe Aare geduldig Kühlschränke und Lastwagenreifen in den Garten schob. Danach hat er sich mit seiner Klasse in die Höhe und zu „den Grossen“ begeben, die extra ein wenig zusammenrücken.

(Off Topic für 2nd2nd: Lila schreibt über die Beschneidung.)

sei das Quartier, meint Sabine Schärrer, Tochter der Quartierarchitekten Hans und Gret Reinhard im heutigen Interview (noch nicht online). In architektonischen Fragen bin ich mit ihr zu 70% einverstanden, in sozialen zu 5%. Aber wie sollte es anders sein? Schliesslich wohne ich hier und sie in der Elfenau.

Nein, nein, „von einem Ghetto zu reden wäre eindeutig verfehlt“, sagt sie. „Allen, die das sagen, würde ich das Quartier ganz gerne mal zeigen.“ Tja:

Quartierrundgänge
sind eben
nicht
das Leben.

Und die Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit (VBG), deren Präsidentin sie ist, finde ich, gemessen an Geld und Auftrag, die unprofessionellste Institution, die wir hier in Bern haben. Aber ich möchte unserem Quartierverein, der im Vergleich ein Ausbund an Professionalität und abhängig von eben dieser VBG ist, keine Probleme machen, indem ich hier zu viele Müsterchen loswerde. Vielleicht später einmal. So manches ist zu gut, um nicht gebloggt zu werden. Oft wünsche ich mir, alle hier hätten eine andere Sprache und Schrift auf ihrem Internet, wie bei Lila, die gelassen über die Kibbuz-Vollversammlungen bloggen kann.

Damit schliessen wir die Serie: „Unser Quartier von aussen betrachtet,“ mit – sagen wir mal – gemischten Gefühlen.

…schon wieder Leute aus dem Block C befragen. So gemein. Es gibt noch zwei weitere Blöcke hier, genau! A und B.

Ich bin mit den Damen immerhin einig, dass das Warnpiepen der Baulastwagen unsäglich penetrant ist. Es ähnelt dem Timer, den ich bei McDonald’s im Griff behalten musste, Fritten, Fishmac, Nuggets, ApplePie. Das hat mich dann auch immer so schön in den Schlaf begleitet.

Endlich. Die Schädlingsbekämpfung kommt. Der Kammerjäger hat einen starken Befall von Pharaoameisen und Schaben diagnostiziert und will nun in zwei Tagen alle 38 Wohnungen zwischen Erdgeschoss und 13. Stock behandeln.

Ameisen kennen wir aus unserer Wohnung nicht, aber Kakerlaken (Küchenschaben, Schwabenkäfer). Mit schöner Regelmässigkeit, alle zwei Jahre jeweils im Herbst, melden sie sich zurück und fallen zu Hunderten über unsere Küche her. Traditionellerweise wird die Saison eingeläutet von einem sehr lauten, morgendlichen ‚Ääääääääääääääähhhhhhhhh‘ von 2nd, female, aus der Küche.

Die Kaffeemaschine und -mühle sind dann ihre bevorzugten Brutplätze, bei einer Stossbehandlung mit der grünen Spraydose stieben jeweils einige Dutzend ganz kleine (1mm) bis ziemlich grosse (15mm) raus und verschwinden, einige verenden.

Das reicht natürlich nicht, und alle zwei Jahre lässt die Vermieterschaft auf unseren Wunsch hin den Kammerjäger kommen, unterlässt es aber auch nicht, uns die Schuld zuzuschieben. Das machen sie – ausser bei uns – offenbar sehr effektiv, denn es hat natürlich schon immer in allen Wohnungen solche Viecher, aber kaum jemand wagte sich es zu melden. In diesem Herbst wäre wieder eine Invasion fällig gewesen. Vielleicht bleiben wir jetzt drei, vier Jahre schabenfrei?

Nächste Woche, Montag und Dienstag, ab 8 Uhr kommen die Männer der Schädlingsbekämpfung, mit Gasmasken.

Wer nicht da ist, gibt bitte den Schlüssel beim Hausabwart oder bei den Nachbarn ab.

Wir freuen uns

Weniger Arbeitslose

Im Gäbelbachquartier leben weniger Arbeitslose als im restlichen Kantonsgebiet: Hier beträgt die Quote 2,2 Prozent, während auf die ganze Stadt gesehen 2,6 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind. Auf Stadtgebiet sind 2 Prozent der Schweizer ohne Erwerbsarbeit, im Gäbelbach 1,6 Prozent. 4,8 Prozent der Ausländer sind im Berner Schnitt arbeitslos, im Gäbelbach sind es 3,1 Prozent. [Quelle, der Bund vom 16.8.]

Nachdem wir vorgestern also in der Zeitung lesen konnten, dass wir seltener arbeitslos sind als die andern, müssen wir uns heute schon wieder mit einem Korrigendum abfinden (wer hätte das gedacht):

7,2 Prozent Arbeitslose

In der Dienstagsausgabe vermeldete der «Bund» eine Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent für das Quartier. Diese Quote bezog sich auf die Gesamtbevölkerung. Die offizielle Arbeitslosenquote hingegen bezieht sich auf die Anzahl Erwerbspersonen. So berechnet, liegt die Arbeitslosenquote im Gäbelbach deutlich höher: Ende 2004 betrug sie 7,2 Prozent. 5,4 Prozent der Schweizer und 9,5 Prozent der ausländischen Erwerbspersonen waren ohne Arbeit. Im Stadtberner Schnitt betrug die Arbeitslosenquote Ende 2004 4,4 Prozent –3,5 Prozent bei den Schweizern, 7,1 Prozent bei den Ausländern. [Quelle: Der Bund von heute]

Das ist wunderbar, weil so exemplarisch für den Umgang Berns (Unesco Weltkulturerbe) mit seinem Stadtrand. Zuerst findet man das Quartier noch cool (leCorbusier abgeguckt, erster Elementbau Europas), dann kommen die Zurück-zur-Natur-Fritzen und verdammen die „Kaninchenställe“, parallel dazu beginnt der Eigenheim-Tick von Ottonormalverbraucher, der die ganze Peripherie verbaut und den Pendlerverkehr zu einem der grössten Probleme Berns macht. So wird weggeschaut und gespart und einfach ignoriert. Und weils dann in einer Art zerfällt, die für alle in der Stadt etwas peinlich wird, beginnt die Beschönigungsrunde.

Den übrigen Platz widmet die Serie heute unserem Tierpark, der gelinde gesagt Geschmacksache ist und auch immer mal wieder militante Tierschützer anzieht. (Die schneiden das Gehege durch und lassen die Viecher frei, die man dann am nächsten und übernächsten Tag irgendwo tot zussammenschaufelt oder ersoffen aus dem Bach hievt. Und beim letzten Mal haben sie sogar ihr Repertoire erweitert und ein Bekennerschrieben hinterlassen.)

Am Mittwoch ist das leidige Thema Hauswartschaft dran und der Artikel entspricht dem, was ich hier erlebe. Die Hauswarte entscheiden über das Quartierbild, sind mal kreuzblöd, mal engagiert, haben aber immer ein unerfüllbar überfrachtetes Pflichtenheft.

Auch die Kurzfassung über das Verhältnis zwischen Leuten aus der Schweiz, Eingebürgerten und Leuten aus dem Ausland trifft zu. Nicht die Tatsachen, sondern die Empfindungen. (Nicht nur Leute aus Ex-Jugoslawien fahren zu schnell, der hier ist ein waschechter Schweizer, dem Namen nach seit mindestens 10 Generationen.)

Völliger Mist ist das Gesülze von der Aufwertung des Quartiers durch Zusammenbauerei mit einer neuen Siedlung, in der Eigentumswohnungen entstehen, welche nach meiner Einschätzung hauptsächlich von Rentnern und Dinks gekauft werden. Was wir brauchen, um das Quartier aufzuwerten, ist in erster Linie mehr Präsenz von Leuten, die Quartierarbeit machen. Und eine bessere Schule und alle anderen Massnahmen, die eine schnellere Reaktion auf Gewaltprobleme unter Kindern ermöglichen.

Ebenfalls enerviert bin ich vom ewig gleichen Turn der Chefs bei Polizei und Quartierverwaltung, die in die Statistik blicken und sagen, nöö, hier ist es nicht schlimmer als anderswo. Dass die Latte viel höher hängt, dass es viel länger dauert bis irgend etwas kritisiert oder ein Delikt angezeigt wird, verschweigen sie. Dass es hier einen Riesenanteil Menschen gibt, die sich nicht ausdrücken können, die ihre Rechte und Möglichkeiten wie auch die Behörden nicht kennen, ist kein Thema.

Ausser mir wusste niemand von den Eltern in 3rd Ex-Klasse, dass die Schule während der Schulzeit eine Aufsichtspflicht hat, selbst wenn eine Lehrperson krank ist. Niemand wusste, dass jedes Kind ein Recht auf ein Mathematikbuch und ein eigenes Lesebuch hat, weil wir das mit den Steuern bezahlen. Auch die Schweizer Eltern hatten keine Ahnung. Die wissen aber immerhin meistens, dass es hierzulande verboten ist, Frau und Kinder mit einem Stock zu verprügeln.

Die Bund – Serie über unser Quartier hat Halbzeit. Gemessen an den (Selbst-)Lügen, die sonst darüber kursieren, ist sie erstaunlich gut.

Und so geht es weiter. Das HipHopMusical „Block A Dream“ haben 1st, 2nd2nd und 3rd bereits gesehen, ich gucke am Mittwoch, 3rd kommt noch einmal mit, vollcoolgeil fand er das.

All the world’s a stage – wird hier gut sichtbar. Ich kann das Freilichttheater nur von der Realität unterscheiden, weil’s abgesperrt ist. Ob man als Darsteller ins Publikum schaut oder als Publikum zu den Darstellern: alles eins. Wir kennen einander, der Hauptdarsteller war bei 1st im Hort, die Familie hat vor wenigen Wochen ihr 5. Kind bekommen. Sein Vater war (und ist) als Eingebürgerter überzeugter Gegner der erleichterten Einbürgerung, weshalb ich vor einem Jahr im Bus mit ihm herumgestritten und die Abstimmung natürlich trotzdem verloren habe.

Doch das Zentralste, was ein Aussenstehender diesem Bericht über unser Quartier entnehmen kann, ist: Eine Frau anderer Nationaliät zu lieben ist hier eine Million mal schwieriger, als an die Drogen der Welt zu kommen.

Und zum Schluss: Herr Rau erklärt die Cricket-Regeln (nicht dass ich sie jetzt verstehen würde, ist aber trotzdem schön). Wir haben neben bekifftem Jungvolk auch eine Gruppe strammer Inder und Pakistani die jeden Sonntag – zusammen! Peace now! – Cricket spielen. Und weil der Rasen nicht ganz so gross und freistehend ist, wie er sollte, sieht man sie hauptsächlich auf dem Schulhausdach ihre Bälle suchen. Aber Cricket eilt auch nie.

1. Die Serie über unser Quartier hat begonnen. Optimistisch wie sich das gehört.

2. Israel zieht sich zurück. Ob hier Konfliktpotenzial aufweicht, vermögen nur die vor Ort zu sagen. Und die vielleicht.

3. Die Personenfreizügigkeit Ost: Der Abstimmungskampf hat begonnen, ignoranz.ch fasst wie gewohnt akribisch zusammen.

hasse ich dieses Quartier. Das ist im Grunde ein gutes Zeichen. Mein allerliebster Nachbar ist aus dem Knast zurück. Ja, der, der die 4 1/2-Zimmer-Wohnung gekriegt hat, für die viele Familien Schlagen standen, keine Ahnung weshalb. Es wäre im scheissegal gewesen in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Eben, jetzt ist er aus dem Knast raus und zieht schon wieder Volk an, das man während er drin war, hier nie mehr gesichtet hat. Dafür sieht er wesentlich besser aus als vorher, geföhnt anstatt strähnig, genährt anstatt klapprig. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, dass wir wieder aneinandergeraten (er war über mir im Kindergarten), weil er mit seinen Dealerkumpanen rumzofft und mit 60 km/h durch die „Zone 30“ blocht. Kleinkriminielle dürfen gerne hier wohnen, aber ihre Kleinkriminalität sollen sie gefälligst irgendwo anders ablassen. Zum Beispiel in Muri.

Die Flügel hält es ausgebreitet, das Mövenmädchen. Aber aus der Glasschale kann es nicht wegfliegen, obwohl es ernsthaft den Anweisungen von aussen zu lauschen scheint.

Herr K. aus Frutigen findet es nicht richtig, dass das Kunstwerk aus dem Museum entfernt wurde. Auch Frau R. aus Rohrbach ist darüber nicht glücklich, denn sie hat damit gerechnet, dass es in der Ausstellung etwas Unbekanntes zu sehen gäbe, und ausserdem hätte sich vorher auch niemand um den weiblichen Fötus gekümmert. Empört ist Herr I. aus Naters über die Erzkonservativen im Wallis, die einem vorschreiben wollen, wie Kunst auszusehen hat.

Foto: Driss Manchoube, 1983

Vor zwei Jahren ist meine Freundin gestorben.
Sie war Lektorin und Kummermutter zahlreicher schreibender und malender KünstlerInnen. „Rosmarin“, wie sie von einem bekannten Maler genannt wurde, hasste selbst im kältesten Winter warme Jacken, Mäntel und Schuhe. Als ich ihr einen Schal aus pistaziengrüner Alpakawolle strickte, legte sie diesen in den Kofferraum ihres Autos zu den Büchern, dem Hundefutter, den Sämereien aus ganz Europa, der Ralf-König-Uhr, den Süssigkeiten und den Spielsachen für die Kinder ihrer Freundinnen.
Rosmarin liebte Tiere über alles und konnte keines leiden sehen. Als sie auf der Strasse einen Bauern seinen jungen Esel schlagen sah, kaufte sie ihm das Tier ab, besorgte eine Milchflasche, stellte den putzigen Grauen mit den Hinterbeinen auf den Notsitz des Sportwagens, legte sich seine Vorderbeine über die Schultern und fuhr, unbehelligt von sämtlichen Grenzwächtern, von Kroatien in die Schweiz.
(Der Esel wurde von Dorfpfarrer aufgenommen.)

Für den zugelaufenen Hund „Nablus“ (genannt nach der 1967 verdunkelten westjordanischen Stadt), bezahlte sie die teure Reise von Israel in den Aargau.
Auf einer nebligen südfranzösischen Nebenstrasse hielt sie einmal an, um einem Familienzirkus, dessen Kamele, Zebras und Lamas in einem Obstgarten weideten, eine Futter-für-die-Tiere-Geldnote und einen Kilosack Früchtebonbons (aus dem Kofferraum) für die Kinder zu geben.
Neben den Vierbeinern wurden auch Bücher von Rosmarin gerettet. Diese türmten sich an den Wänden in ihrer Wohnung, umrahmten das Bett, wurden auch zu „Möbeln“, und jedes hatte seine eigene Geschichte.
Kurz vor ihrem Tod bat sie mich, für die Bücher zu sorgen, denn die Verwandten wollten nichts von dieser „Morerei“ wissen, hatten damit gedroht, alles in den Müllcontainer zu schmeissen.
Zusammen mit meinen Kindern versprach ich, dies zu verhindern.
Kaum war Rosmarin beerdigt, kamen die Leute vom Dorf mit Wäschekörben und schleppten die Bücher, die ihnen gefielen ab. Die Verwandten hatten sich so den Container erspart.
Aus dem Rest habe ich mit meiner Familie eine Rosmarin-Gedenk-Bibliothek zusammengestellt.
Manchmal greife ich ein Buch heraus, eines mit Hundekratzspuren oder einem verblassten Kaffeefleck und merke, wie sehr sie uns fehlt.

Frau K. kommt mit schmerzenden Beinen an die Bushaltestelle. Obwohl sie Gesundheitssandalen trägt, sind die Füsse aufgeschwollen. Seit einigen Monaten arbeitet sie in einer mit Taschen und Schirmen vollgestopften Lederboutique in der Altstadt. Das Schlimme ist, dass man sich darin die Beine nicht vertreten kann. Alle Arbeiten muss Frau K. im Nachstellschritt erledigen. Dazu kommt noch, dass sie den Detailhandel in Leder nicht gelernt hat. Die KundInnen stellen oft Fragen, die sie nicht beantworten kann. Sie gibt es offen zu, wenn sie etwas nicht weiss. Ist der Chef telefonisch zu erreichen, fragt sie ihn.
Eigentlich kommt sie aus der Textilbranche „Schweizer Spitzen“, aber seitdem die Leute keine Blusen mit Spitzeneinsätzen mehr tragen und der Handel mit Spitzentaschentüchern rasant zurück gegangen ist, braucht man keine Spitzenverkäuferinnen mehr. Eine königliche Hochzeit gibt es ja auch nicht jeden Tag, an der Sankt Galler Stickerei gefragt ist. Die sexy Unterwäsche wird übers Internet verkauft.
Heute hatte Frau K. den ganzen Nachmittag nur eine Kundin, eine Schwedin, die in den Laden kam, um ihr ein bisschen von ihren schweizer Verwandten zu erzählen.
„Eigentlich arbeite ich nicht, es ist mehr ein Ladenhüten,“ meint Frau K. Sie geht gerne nach Hause. Der Bauplatz vor der Wohnung stört sie nicht.
Ihr „Bub“ ist dort Bauführer. So einen ordentlichen Bauplatz findet man kaum, da hat alles seinen Platz und die Erdwälle sind akkurat aufgeschüttet.
„Der Bub baut nicht für heute, er baut für die kommende Generation.“
Eins ist sicher: Libeskind ist als Architekt kein Mann des Nachstellschritts.

Albert hat seine Hosen zum Waschen gebracht. Bei der Arbeit mit den Bienenvölkern gab es einen Fleck auf ein Hosenbein. Dieser hob sich, weil neuesten Datums, von den anderen ineinander übergreifenden Flecken deutlich ab.
Ich liebe Probleme, die ich gleich lösen kann. Juppii, die Hose ist eigentlich hellbraun mit einem feinen Fischgrätemuster, kann aber nach der Wäsche nun nicht mehr in die Ecke gestellt werden, eher kann man nun durch den Stoff Zeitung lesen. Albert will sich, gutes Zureden hin oder her, von den lützlen Beinkleidern nicht trennen.

Was liegt eigentlich für alte Menschen nach all den Sparrunden heute noch drinn? „Satt und sauber“ ist die Devise in den Altersheimen. Zu mehr reichts nicht.
Während der Ausbildung lernen die PflegerInnen zwar noch etwas über weitere Bedüfnisse dieser Altersgruppe, schreiben Diplomarbeiten wie: „Nicht-materielle Aspekte der Betreuung von Betagten“, „Gruppenarbeit mit älteren Menschen“, „Soziologie für die Altenarbeit – soziale Gerontologie“, „Das Recht der Alten auf Eigensinn“. Schon im ersten Praktikum kommt die Ernüchterung. Wenns für etwas nicht reicht, dann ist es sicher der Eigensinn.
(Will sich meine Mutter in aller Herrgottsfrühe von der Spitex-Schwester nicht waschen lassen, macht die Schwester der über Achzigjährigen „zur Strafe“ das Bett nicht. )
Man könnte sagen: Die Altersbetreuung steckt noch in den Kinderschuhen, und in solchen ist man schlecht gerüstet für anstehende Aufgaben.
Eine aufmerksame Blog- und Zeitungsleserin aus Deutschland hat mir diesen Zeitungsartikel zugeschickt. Danke, liebe Kristine. (neu verlinkt)
In der ganzen Pflegeheim-Tristesse wirkt das Dienstbotenheim in Koppigen, Kanton Bern wie ein helles Licht. Vor einiger Zeit wollte die Kantonale Gesundheitsdirektion das beinahe 100 Jahre alte Heim den neuesten Vorschriften anpassen. Die engen Stuben der betagten Knechte und Mägde sollten vergrössert und die sanitären Einrichtungen modernisiert werden. Erfolgreich wehrte man sich gegen diese Veränderung. Man brauche sie nicht. Die Alten seien nur zum Schlafen und Nachdenken im Stübli, sonst in Stall, Wald, Garten, auf dem Feld oder in der Küche. Gewaschen hätten sie sich ein Leben lang am Brunnen.
„Für viele ist das Heim nicht die letzte Station, sondern nur ein Stellenwechsel“, meint der Heimleiter Alexander Nägeli. Könnte man etwas Respektvolleres über alte Menschen sagen?

ein lustiges Wort, wenn’s einem zu so später und stiller Stunde in die Tasten rollt. Sie sind das Letzte und am schwierigsten zu stricken, und können, wenn’s nicht hinhaut, den schönsten Pulli verderben. In der Unterschule brauchten wir Überärmel, aus Resten genäht, am Handgelenk und in der Mitte des Oberarms mit einem Gummizug versehen. Viele hatten Blümchenstoff, ich dunkelblauen Barchent, denn der Stoff mit Blümchen wurde in meiner Jugend knapp abgemessen. Ärmel sollen die Kinder nicht in den Teller hängen lassen und daran keinesfalls die Schnudernase abputzen. Manchmal nimmts einem den Ärmel rein. Das sagt man so, wenn man von etwas nicht mehr lassen kann – Mensch, Tier oder Sache.
Der Ärmel als Bild wird heute auch gerne von den ArbeitgeberInnen gebraucht. Sie können nämlich keine Stellen aus dem Ärmel schütteln, so gerne sie das täten, sorry. Aber gerade das ist es, was ich mir unter einer guten Betriebsleitung vorstelle: dass sie die Kunst des Aus-dem-Ärmel-Schüttelns versteht. Viele haben eben Mehl am Ärmel – nüt für unguet.

Nächste Seite »