Februar 2006


Ich darf die lieben Blogk-Leserinnen und -Leser auf die freundliche Erwähnung unseres Dialekts bei wusisdus aufmerksam machen. Vered hat wie gewohnt ausgezeichnet beobachtet und einen wunderschönen Beitrag zum Gebrauch des Dialekts in Blogs verfasst. Ich verstehe die Klage, die Leute würden mit der Elektronik immer unaufmerksamer, ohnehin schlecht. Ob jemand konzentriert oder oberflächlich konsumiert, liegt wohl immer noch eher an ihm als am Medium.

Heute sprechen wir über Seuchen in vergangenen Zeiten.
Vater erinnert sich, wie er als Achtjähriger am Fenster stand und zuschaute, wie man mit zwei Pferden die toten Kühe den Graben hinunter zur Sammelstelle schleppte, wo die Kadaver zum Verbrennen abgeholt wurden. Es war der Maul- und Klauenseuchezug 1919-1924.
Als dann im Jahre 1938 die Seuche wieder ausbrach, traf es Wältis Gödu in der Buchen besonders hart. In seinem Stall standen 60-70 Stück der besten Jungtiere, Kühe, sie hatten zum ersten Mal gekalbt, bekamen hohes Fieber und starben innerhalb kürzester Zeit an einem Herzschlag. Gödu war ausser sich vor Verzweiflung. Er nahm ein grosses Messer zur Hand und hieb den toten Kühen den Kopf ab. Dann schleppte er die Kadaver mit einem Pferd aus dem Stall auf den Hausplatz und wartete darauf, dass man sie zum Verbrennen abholte.
Im „Neuhaus“, dem elterlichen Hof meines Vaters, hatte man grosses Gfehl (Glück). Das Vieh blieb von der Seuche verschont. Zusammen mit den Nachbarn Maurer Fridu und Kühni Wernu machte sich Vater auf, denen auf der Buchen zu helfen. Die jungen Männer, beraten vom „Kantönler“, (dem Kantonstierarzt), waren entschlossen, „durchzuseuchen“. Auf der Buchen sollte nicht mehr geschlachtet werden. Man fing an, die Kühe zu pflegen. Diese lagen auf dem Boden, die haarfreien Stellen ums Maul und an den Klauen voller hässlicher Blasen, Schrunden und klebrigem Schaum. Man salbte und badete, versuchte, die geschwächten fiebrigen Tiere zu tränken. Es dauerte bis zu sechs Wochen, bis diese anfingen, sich zu erholen. Natürlich erbrachten sie nie mehr die gleiche Leistung wie vor der Seuche. Es gab auch einige Kühe, die es nicht schafften, aber der Hof wurde vor dem grössten Unglück bewahrt.

In diesen schrecklichen Jahren 1938-1939 konnte sich auch die ärmste Familien eine Fleischmalzeit leisten, kostete doch das Kilo nur einen Batzen – 10 Rappen. So sah man die Arbeiter abends nach Hause gehen, ein Räf (Traggestell) auf dem Rücken, voll bepackt mit Rindfleisch und Knochen, so dass die Äste der Bäume die aufgetürmte Last streiften.

2006: Die Hüher sind (wieder) eingesperrt, es ist Jagdsaison für die Krähen, die Rehe sind abgeknallt, weil sich jemand über ihr Äsen in Hofnähe beschwerte. Nur die Katzen kümmern sich nicht um die gefrorene Erde und hocken auf der Lauer.

So sah die längenbergische Fauna heute Morgen folgendermassen aus:
9 Katzen
5 Saatkrähen
4 Pferde
1 Kuh in einem Transporter

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin
geboren am 27. Juli 1909,
gestorben am 22. Februar 2006

Als ich ein Kind war, waren wir – für damalige Verhältnisse – noch immer arm. Doch wir buken vor Weihnachten. Natürlich Lebkuchen. Meine Mutter beauftragte mich und meine Pflegeschwestern, die unterschiedlichsten Schablonen mit einer spitzigen Nadel aus Karton zu stanzen, denn schneiden war ihr nicht genau genug und schulte unsere motorischen Fähigkeiten in ihren Augen nur ungenügend.

Wir legten die Schablonen auf den ausgewallten Teig und fuhren mit einem Schnitzer ihrem Rand entlang. Nur von Mutter abgesegnete Formen durften verwirklicht werden, es galt unter allen Umständen zu vermeiden, dass ein zu dünnes Katzenbein im Ofen verkohlte.

Und weil meine Eltern – als erste Generation mit Arbeit in der Stadt – doch ein wenig mehr als gar kein Geld hatten, reichte es sogar für die Dekoration. Wir kauften eine Tüte Puderzucker. Den rührten wir schrittweise mit (ja nicht zu viel!) Wasser an und machten daraus echte Glasur. Diese füllten wir in erschnorrte Plastiksäcke (welche zu dieser Zeit gerade neu in Mode gekommen waren) und schnitten mit einer Nagelschere einen klitzekleinen Teil der unteren Ecke ab. So entstand unser Spritzsack. Und wenn uns einmal eine gnädige Verwandte eine Flasche Himbeersirup geschenkt hatte, rührten wir einige Tropfen davon in die Glasur, damit sie rosa wurde. Wir verzierten kunstvoll die verschiedenen Lebkuchen, natürlich dem Empfänger individuell angepasst.

Die trockenen Kuchen packten wir in das Papier, in dem wir – oder sonst jemand – unsere letzten Geburtstagsgeschenke bekommen hatten. Ein Bändeli aus dem Ausschuss der Leinenweberei, ein anderes aus Wollresten des letzten Gilets, das 1st uns gestrickt hatte, und fertig waren die originellsten Geschenke weit und breit.

Was für uns an Teig oder kaputten Kuchen übrig blieb – davon ist mir bestimmt nicht schlecht geworden. Dafür machte uns 1st nach Weihnachten ein „Memory“ aus den Geschenkpapierschnipseln, in die man beim besten Willen nichts mehr einwickeln konnte, schon gar nicht die Lebkuchen vom nächsten Jahr. Und wir haben es immer noch, das Memory.

Die Moral? Meiner Grossmutter liebstes Bibelwort: Geben ist seliger denn Nehmen. Und meiner Grossmutter liebstes Familienwort: Mach aus der Not eine Tugend.

(Unnötig zu erwähnen, dass damit auch ein gewisser Druck auf uns entstand, aber bis jetzt haben wir uns zu helfen gewusst. Ich zum Beispiel delegiere das Backen an den besten Hobbybäcker an meiner Seite, wovon auch meine Schwester profitiert. Und meine Cousine hat sogar den Weltmeister der Konditorei zum Mann. Allerdings hat er sich den Titel – das gesteht er unumwunden – nur mit ihrer fachlichen Hilfe geholt. Der Wettbewerbsbeitrag Eistorte im novemberlichen Australien war nämlich eine echte Herausforderung.)

Als meine Mutter und ihre Geschwister klein waren, waren meine Grosseltern arm. Das bedeutet, dass sie nichts hatten, und was sie hatten, selber gemacht oder gegen Selbstgemachtes getauscht war.

Erzählt mein Grossvater davon, klingt die Kargheit schon in der Wortwahl. „Wir hatten nichts weder Salz,“ pflegt er zu sagen. Es machte für mich seit jeher jeden Satz gähnend leer, wenn er „weder“ als „als“ benutzte.

Dennoch gab es Tage, an denen ein paar Rappen zusammenkamen, vielleicht weil man nach dem eigenen Heuet noch den von Nachbarn zu bewältigen vermochte. Dass der Bauer früh ins Bett ging, um früh aufzustehen, stimmte zumindest damals nicht. Im Alter, in dem ich jetzt bin, hatte mein Grossvater ungefähr vier Stunden Schlaf. Dank dem kam meine Grossmutter dazu, ein paar rare Rappen effizient und originell einzusetzen.

Einmal, als der Küchenschrank nicht ganz leer war, weil man als Pächterfamilie ja auch einiges aus dem Boden ziehen konnte, ging sie zur Drogerie und kaufte Lebkuchengewürz. Sie hatte es satt, ihren Kindern „nichts“ geben zu können.

Sie und die älteste Tochter (1st) standen nun also vor dem ausgewallten Teig, der den ganzen riesigen Küchentisch deckte und wussten nicht, wie sie ausstechen sollten. Es gab nichts im Haushalt, was einer Ausstech-Form nahe kam. Aber dass alle Lebkuchen einigermassen gleich gross werden sollten, war beim Backen mit offenem Feuer eine Bedingung. Grossmutter entschied sich für eine Kaffeetasse. (Diese hatte eher die Grösse einer heutigen Müsli-Schale, womit auch erklärt ist, warum man im Bernbiet noch immer „eine Schale“ bestellen kann und einen Milchkaffee bekommt).

Mit weit ausholenden Bewegungen drehte sie Dutzende von Lebkuchen aus, was zackig zu geschehen hatte, sonst blieb der Teig ja in der Tasse kleben. So buk sie also die vielen, vielen Lebkuchen und sie dufteten besser, als alles, was die Kinder je gerochen hatten und gelangen so zahlreich, dass sie sogar welche in den Schule mitbringen konnten. Aber wo aufbewahren? Weidenkörbe wurden geleert, mit sauberen Leintüchern ausgelegt und in das kühlste Zimmer gestellt. Einen Vorrat an Lebkuchen zu haben, das kam einer Offenbarung gleich.

Meine Mutter, die Perfektionistin, schämte sich, die Lebkuchen ihren Schulkameradinnen und der Lehrerin so ganz ohne Dekoration anzubieten. Aber meine Grossmutter schenkte ihr keine Beachtung und gab so viele mit, dass es für alle und darüber hinaus reichte. Die glanzlosen braunen Kuchen wurden ein Riesenerfolg, die Lehrerin konnte ihr Glück über dieses Geschenk nicht fassen. Denn meine Vorfahren waren ja nicht die einzig Armen im Dorf.

In der Stadt wird umgenutzt – zu Gunsten der Bildung! Hier einige Beispiele:
Aus der Tuchfabrik Schild in Berns Westen wurde die Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung.
Aus der Schokoladefabrik wurde Unitobler. Noch immer zieht ein feiner Duft nach Toblerone durch das Haus.
Aus der alten Frauenklinik wurde UniS, Universität Schanzenstrasse. Hier unterrichten nun die DozentInnen, welche im „alten Froueli“ das Licht der Welt erblickten.
Aus der Villa des Berner Chirurgen Theodor Kocher wurde das Haus der Universität. Der Park sei ein Geheimtipp für BlogleserInnen.
Aus der Leinenweberei Schwob wurde ein Forschungszentrum für orthopädische Chirurgie.
Aus der Maschinenfabrik Von Roll wird bald eine pädagogische Hochschule.
Nun müssen wir nur noch die Volksschule verbessern, damit es mit dem Nachwuchs in die Denk-Fabriken klappt.

Berne, Gare l

Fotografiert gegen 08:00 Uhr – auf dem Weg zu meiner Mailbox.

Albatros
Grosser Vogel
Meere
über den Wellen
nur zur Balz an Land
nur 1 Ei
Junge 13°
278 Tage

Schlangen
Mamba ganz giftig
Afrikanische Baumschlange
Puffottern
Kobras
Albino-Kornnattern
Kreuzotter
Aspisviper

geschrieben von meiner Mutter auf die Rückseite eines Blattes mit Kirchenliedern. Als Kleinbäuerin in den Nebenhögern des Längenbergs kümmerte sie sich ein Leben lang um Schweine, Hühner, Katzen und Hunde.

… haben wir zwar den Menschen in aller Welt gebracht“, philosophiert Herr Schneeberger, der Chefredaktor vom Orangen-Riesen-Blatt, „wir haben es aber nicht geschafft, ihnen gesellschaftliche Toleranz und kulturelle Freiheit als zu verteidigende Werte wirklich näher zu bringen“. „Und“, schreibt er weiter, „die Unfähigkeit des Westens, unsere Denkmuster und Grundsätze anderen Religionen und Kulturen wirklich verständlich zu machen, hat sich hier wieder einmal offenbart.“
Wo „hier“ und welche „Unfähigkeit des Westens“ wohl gemeint sind? Auf jeden Fall hat sich Herr Schneeberger vom grossen M, hoffentlich im letzten M-oment, auch noch zum M-Thema geäussert. In den Läden des orangen Riesen dürfen sich alle Religionen sicher fühlen. Da passiert nichts.

Uns allen nichts,
den buddhistischen Nudeln nichts,
den katholischen Spaghettis nichts,
den reformierten Bratwürsten nichts,
den jüdischen Mazzes nichts,
den muslimischen Feigen nichts,
dem orthodoxen Honig nichts,
dem hinduistischen Reis nichts.

(Seidem die MitarbeiterInnen in den orangen Gewändli nicht mehr ganz zu den Working poor gehören weil der Riese endlich einen Mindestlohn von 3300 Fr. bezahlt, ist es auch an dieser Front ruhig).
Gibts den Elch nun wirklich schon im hintersten Kuluwäly?

Nachdem ich nun geschlagene 20 Jahre nie einem Kind ein Waffenimitat gekauft habe (ausser eine Wasserspritze in Form eines Fisches), gehe ich heute zu Franz Carl Weber und erwerbe das teuerste Ding, das die anzubieten haben. Auch in normalen Waffengeschäften gibt es ja Imitate, vielleicht gehe ich auch da hin, die Waffenladendichte im verträumten Bern ist ganz ansehnlich.

3rd, male hat noch immer Albträume und besonders suchen sie ihn vor dem ersten Schultag nach den Ferien heim, egal wie sehr er sich auf die Klasse freut. Er wacht schweissgebadet auf, die Tränen laufen an ihm herunter, sein Magen dreht sich nach Stunden der Folter und anschliessendem Aufgeschlitztwerden mit einem Schweizer Sackmesser.

Das sind Zahlen. Vermutlich stimmen sie sogar. Nur komme ich nach einem Jahr Verarbeitung leider zur Erkenntnis, dass die Folgen für Aussenstehende kaum zu erfassen sind. Ich bin jedenfalls meistens mit den gleichen idiotischen Plattitüden aus Unkenntnis konfrontiert, die uns schon in der Situation selber fast das Genick gebrochen haben. Übrigens in jeder Gesellschaftsschicht und trotz aller Studien.

Wir haben uns heute früh vor 3rds Poster von 50-Cent-unverwundbar gestellt und x-mal wie dieser die imaginäre Knarre hinten aus dem Hosenbund gezogen. Ab heute ist sie nicht mehr imaginär und liegt neben 3rds Bett, bis er jeden Täter im Traum erschossen hat.

Rehe an verschneiten Waldrändern sind selten geworden. Als ich ein Kind war, kamen sie in kalten Wintern oft bis an unser Haus heran und knabberten an der Rinde der Obstbäume. Wir beobachteten die scheuen Tiere durch die vereisten Fenster.
In den vergangenen Wochen suchten sich einige Rehe ihr kärgliches Futter an einem Wald- und Strassenrand auf dem Längenberg. Gestern fuhr ich wieder diese Strecke. Die Rehe waren verschwunden. Zwei Jäger hatten ihr Auto am Waldrand geparkt und zogen mit ihren Flinten in die Hügel. Wahrscheinlich gab es „Reklamationen aus der (landwirtschaftlichen) Bevölkerung“. Denn nur so kann ich mir erklären, dass sich die Weidmänner ausserhalb der Jagdsaison auf der Pirsch befanden.
(In dieser Gegend bewahrt man die alten Wolfsnetze in der Kirche auf!)

Hier noch eine Geschichte aus erster Hand:
Vor vielen Jahren nahm ein junger Bauer, dem es in den „Högern und Chrächen“ am Längenberg zu eng geworden war, neben Frau, Kind und Kuhglocken auch eine Katze mit über den grossen Teich. Der Existenzkampf in der Fremde auf einer Farm war hart, das jahrelange Sitzen auf einem mächtigen Traktor zerrte an den Kräften.
Dieser Sohn der Region braucht nun dringend einen Heimaturlaub. Die alte Katze lebt nicht mehr. Aber ihre Urenkelin soll zurück zu ihren längenbergischen Wurzeln reisen dürfen. So wird die Katze in einem Körbchen oben auf das Gepäck gestellt und in einem kanadischen Flughafen Richtung Schweiz verladen. Bei der Kontrolle des Gepäckraumes ist der Käfig leer. Wo ist das Tier? Nach langem Suchen findet man es zerquetscht zwischen den Gepäckstücken. Mit Verspätung kann das Flugzeug abfliegen, allerdings ohne die Heimaturlauber. Es gilt, den Kadaver zu entsorgen, die entsprechenden Formalitäten zu erledigen und einen neuen Flug zu buchen.

So wie ich gehört habe, ist die Zahl der auswanderungswilligen Katzen auf dem Berg sehr zurückgegangen.

Wieviele können wir behalten und im richtigen Moment hervor holen?
Stehe ich in einer langen Warteschlange, überfällt mich oft kurz und heftig die Angst, ich hätte meinen Bankcode vergessen und würde ihn bis und mit dem dritten Versuch nicht mehr finden. Welch ein, wenn auch heimlicher Triumph, wenn ich OK drücken darf! Wie merke ich mir nur all die Zahlen- und Buchstabenkombinationen? Warum sitze ich nicht ständig vor einem schwarzen Bildschirm mit einem gesperrten Handy? Die Welt ist voller Codes und mein Kopf gefüllt mit unbrauchbaren Eselsbrücken, die im dümmsten Moment auftauchen. Da gilt es, Ruhe zu bewahren!
Im Himalaya traf ich eine Tibeterin, welche die eingehenden Essensbestellungen vor sich her sang und nie etwas vergass.
Heute habe ich wieder ein paar neue Codes gefasst. Mein Lied bekommt immer mehr Strophen – vielleicht bin ich selber der Computer?

Seitdem Frau V. neue Nachbarn bekommen hat, nehmen ihre Depressionen täglich zu. Von morgens bis abends hört sie nur das Bumbum der Kinder in der Wohnung über ihr. Sie dreht die Musik lauter und klingelt bei der Nachbarin, um endlich ein bisschen Ruhe zu bekommen. Bis jetzt hat das nichts gebracht. Im Gegenteil, die Angeschuldigte verwirft dann die eine Hand, an der zweiten ist ihr die Zigarette angewachsen. Extra nimmt sie dann noch andere Mütter mit Kindern in die Wohnung. Diese toben umher, besonders jetzt, wos draussen kalt ist und Sportferien sind, während die Weiber Kaffee trinken und über Frau V. schnöden. Frau V. weiss, dass „die italienische Bastardin“ Probleme mit ihrem Mann hat. Die „Sossial“ bezahlt alles. Auch die Einzimmerwohnung des ausgezogenen Ehemannes. Der ist aber heimlich wieder zur Familie zurück gekehrt und hat die Wohnung hinter dem Rücken der „Sossial“ an einen Freund vermietet. Frau V. denkt ans Umziehen, will aber das wärmere Wetter und den Schulbeginn noch abwarten.
Oder sollte sie doch besser den Hauswart bitten, einmal zu ihr zu kommen, damit er Zeuge des unerträglichen Lärms werde.
Aber eigentlich fühlt sich Frau V. nach dem „Gespräch“ mit mir wieder viel besser. Ihr Handy klingelt. Sie umarmt mich überschwänglich, küsst mich – *** – und eilt auf den Bus, während ich nach einem langen Arbeitstag einer ruhigen Wohnung zu strebe.

Jemand hat mir heute 120 Danksagungen geklaut. (Das sind die Karten, die man hier nach einem Todesfall an alle verschickt, welche der Familie ihr Beileid ausgesprochen, kondoliert, haben.)
Ich habe die verschnürte Schachtel mit den wunderschönen Karten, eine Familienarbeit, kurz vor dem Briefkasten stehen lassen – und weg war sie. Viele Stunden Arbeit und einiges Geld für d’Füchs.
Ja, ich wohne in einem Quartier, in welchem sogar Trauerkarten gestohlen werden.
Das ist zum Gränne.
Nachtrag: Auch 2nd2nd females Fahrrad wurde heute „von Unbekannt“ weggetragen. Es stand abgeschlossen vor der Haustür.

Unser Quartier mit seinen BewohnerInnen gibt sogar den alten Häsinnen Rätsel auf. Gerade ziehen Vietnamesen in eine Wohnung unter mir. „Allez-y, Madame!“ geben sie mir im Lift den Vortritt. Ihre Habe stapelt sich bereits auf dem Treppenabsatz: Eine Kartonschachtel voller Kleiderbügel, einige Plastikkessel mit groben Sägespänen und ein blaues riesiges Plasikfass gefüllt mit Wasser!

Und weg!

Haben Sie ein nerviges, enges, von zu vielen Strassen durchkreuztes oder abstossenden Nachbarn bewohntes Quartier zu entsorgen? Nur immer her damit! Seit Neustem machen wir das gerne, schnell und unkompliziert und in Tell’scher Tradition: In unserer Quartier-Entsorgungsstelle.

Vor vielen Jahren bestellte ich 1 Versandkatalog.
Ohne mein Zutun wurden es im Laufe der Zeit immer mehr.
Oft erreicht mich das gleiches Heft doppelt oder dreifach. Wer betreibt eigentlich, gottfriedli, diesen Handel mit den Adressen? Inzwischen fahre ich die Zeitungsbünde mit dem Einkaufswagen zur Sammelstelle. Abbestellen geht nicht. Retournieren bringt nichts. Als Antwort erhalte ich einen weiteren Katalog mit der Aufforderung, doch gleich eine Bestellung aufzugeben und auch eine Freundin zu werben. So käme ich in den Genuss eines – jupi – Gratisgeschenks. Lange Zeit glaubte ich nämlich, Geschenk komme von schenken.
„Äs git nüt gratis“, versuchten mich Lebenserfahrene zu belehren. Soll ich ihnen glauben und Geschenken misstrauen, wenn ich nicht zum Vornherein bereit bin, dafür zu bezahlen?
Heute hat man mir ein „frühlingshaftes Gratisgeschenk reserviert“: eine „Börse mit passender Armbanduhr“.
Kann eine Frau da nein sagen?

Nachtrag: Es gibt noch eine weitere Art von Geschenken: die absolut grosszügigen, passenden, überraschenden, im richtigen Moment kommenden, den Tag rettenden und mein Herz erwärmenden. Von solchen habe ich hier schon geschrieben.