September 2007


Oh ja, ich habe sehr viel Heimweh nach Thailand. Aber ich muss dankbar sein, in der Schweiz zu bleiben. Was wäre ohne meine Mutter? Ihr muss ich danken, dass sie mich hierher gebracht hat, denn Bangkok ist sehr, sehr schmutzig. Viele Kinder werden genommen und müssen auf die Strasse gehen zum Betteln.

Meine Brüder arbeiten, meine Mutter hat sie in Thailand gelassen, aber ich kann noch nicht selber verdienen, ich muss zuerst sehr viel lernen. Ich war schon in sieben Schulen! Ich war viel krank in Thailand und wenn ich wieder neu krank war, haben sie mich gezügelt zu einer anderen Tante und Grossmutter, ich habe drei Mutter! Aber kein Vater, weil ich drei war als er starb. Mein neuer Vater ist nur mein Stiefvater, er hatte noch nie einen Sohn. Er muss üben wie es geht mit einem Sohn.

Aber als wir noch in Thailand waren hat meine Mutter immer gearbeitet – auch als kleines Mädchen, immer, das war einfach so! – aber sie hatte nicht genug Geld. Bei Tsunami hat Arbeit ihr Leben gerettet, sie musste nach Phuket, aber ein Chef hat gesagt, vorher muss sie noch diese Arbeit fertig machen und dann kam genau der Tsunami nach Phuket und sie war nicht da.

Geld musste meine Mutter viel von anderen nehmen. Mein neuer Vater bezahlt alles zurück, alles, alles, alles. Er ist 43 Jahre alt, meine Mutter 45 Jahre alt und ich sage ihr, dass sie jetzt nichts mehr nach Thailand bezahlen soll, denn diese geben uns nie etwas. Sie denken, alle in der Schweiz sind reich, sie wissen nicht, dass wir hier arbeiten. Jeden Tag lang, damit wir sparen können, für die Wohnung und die Krankheiten, um sie am Ende vom Monat zu bezahlen.

Meine Lehrerin sagt, wenn ich mich in Deutsch verbessern kann, werde ich vielleicht, vielleicht die Sekundarschule schaffen. Aber ich muss mich in Deutsch verbessern. Mein Schweizer Vater kann mir gut helfen bei Deutsch und wenn er etwas nicht kann, schaut er im Computer.

Ich habe mich viel gefragt, warum in der Schweiz die Katzen so gross sind und in Thailand nur so klein, dann habe ich gesehen, dass es hier Katzenfutter gibt. In Thaliand müssen die Katzen sehr clever sein und Vögel fangen und sie sind sehr, sehr dünn. Aber jetzt habe ich hier eine Katze und ich spiele jeden Tag viel mit ihr, damit sie alles üben kann, was die Katzen von Thailand können.

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Zu meinen frühsten Kindheitserinnerungen gehört die Emme. Meine Grossmutter trug mich über den „Däntsch“ durch das Gebüsch hinunter an den Fluss. Blätter, die sich wie Wolle anfühlten, streiften mein Gesicht. Unten am Flussbord setzte sie mich in den feuchten Sand. Es gab eine Schaufel, blau oder grün, mit welcher ich darin grub, bis kleine „Glunggen“ entstanden. Das Wasser rauschte hinter einem Wall von blank geschliffenen Kieseln. Die Holzbrücke spannte sich in kühnem Bogen über den Fluss. Dem einzig existierenden Foto nach musste ich gegen zwei Jahre alt gewesen sein. Ein paar Jahre später sass ich oft auf einem Balken in der Brücke und schaute durch ein Astloch im Geländer auf das Wasser hinunter, bis ich meinte zu fahren. An heissen Tagen war es hier drinnen kühl und das Sonnenlicht drang durch die Fensterläden. Obwohl ich noch klein war, fürchtete ich mich nicht. Sollte zufällig ein Löwe vorbei kommen, würde ich ihm, wie Grossmutter mir für diese brenzlige Situation geraten hatte, ein Lied singen.
60 Jahre später entnehme ich dem NZZ-Folio „Sicherheit“ Sept. 2007, S. 29, dass diese Anweisung absolut richtig war.

Seit Monaten treffen sich bei uns auf dem Spielplatz fünf Frauen libanesischer und irakischer Herkunft mit ungefähr 20 Kindern. Alle tragen ein Kopftuch. Immer passend zu ihren Gewändern, farbig, perfekt gebügelt und bei den jungen Frauen unter dem Kinn zugenäht.

Das älteste Mädchen, dünn und lang, bei diesem Gespräch von Kopf bis Fuss in Blau eingehüllt, begleitete ihre Klasse nicht in die Landschulwoche. Ich wunderte mich. Sie erklärte mir, dass ihre Mutter ihr die Teilnahme nicht erlaubt hatte, weil ihr Lehrer ein Mann sei und sie die Woche auch mit den Knaben verbringen würde. Nächstes Jahr dürfe sie vielleicht mit, wenn sie ein eigenes Zimmer bekommen könne. Ja, sie sei schon traurig. Sie wäre dann noch mehr Aussenseiterin, weil sie viele Gruppenerlebnisse verpasst hätte.

Die Mutter sass im Gespräch mit ihrer Schwester, Schwägerin und Freundin in der Nähe. Ich sprach sie darauf an und erklärte kurz mein Bedauern. Sie wolle das Mädchen nur schützen. Für eine Muslima sei das Leben hier sehr schwierig, erklärte sie mir. Ihre Tochter bete fünf Mal täglich. Ausserdem verhülle sie Haar und Körper vor jedem Mann und jedem Bub. Wie sollte sie sich da dem Landschulwochen-Programm anpassen können? Ausserdem werde das Mädchen in fünf Jahren heiraten. Wer würde sie dann überhaupt noch nehmen, wenn sich die Teilnahme an dieser Woche herumsprechen würde?

Die Kinder haben aus der neuen Gratiszeitung Rollen gemacht und schlagen sich gegenseitig damit auf Köpfe und Waden. Einige Mädchen verschanzen sich in der Telefonkabine und verlassen diese erst wieder, um einen Jungen zu trösten, der auf dem Boden liegt und von zwei Grösseren vertöffelt wird. Es gibt genug Zeitungen, um die zerfledderten Rollen zu ersetzen. Als ich den eingemüllten Platz fotografiere, wird es ganz still. „Sind Sie von der Polizei?“ Ich beruhige sie und frage, wie ihnen dieser Dreck vor dem Haus gefalle. Es ergibt sich ein gutes Gespräch und sie versprechen, alles wegzuräumen. Neben jeder der neun Haustüren steht neuerdings ein „Notenständer“, auf welchem die Gratisblätter angeboten werden. Würde man an dessen Stelle ein Kindervelo oder einen Kinderwagen parkieren, gäbe es sofort Reklamationen. Die Abfallkübel sind vollgestopft mit Papier, dessen Entsorgung die Mieter über die Nebenkosten bezahlen. Blöd für uns und gut für die Herausgeber.
Immerhin müssen in der Schweiz nun täglich 435’000 Zeitungen mehr entsorgt werden.

Eben erhielt ich eine mündliche Absage für eine Mutterschaftsentschädigung. Ich hätte in den neun Monaten vor der Geburt während fünf Monaten angestellt sein sollen. Hallo? Ich habe studiert und halt nur so kleine Telefon-, aufgabenhilfs- und Kerzenziehjobs gemacht.

Blöd, dass ich im Mai 2006 von der Ausgleichskasse des Kantons Bern eine mündliche Zusicherung erhalten habe, dass ich die Voraussetzungen für eine Mutterschaftsentschädigung erfülle. Deshalb rechnete ich mit dem Geld!

Bestimmt wäre es sinnlos und total unmoralisch, unser Familienblog dafür auszunutzen, um im www zu fragen, wer einer verzweifelten Mutter hilft, ihr Studiendarlehen von 15’000 Franken abzubezahlen. Deshalb wünsch ich allen Studierenden keine Schwangerschaft. Kinderkriegen ist nämlich in Bern gar nicht wirklich attraktiv. Kauft euch lieber eine Katze.

Akropolis Bern West

Als ich diese Säulen heute früh so wunderstolz im Morgenlicht empor ragen sah, dachte ich: hurra, nun wohne ich bald in einer A-Stadt, denn hier entsteht die Akro-Polis Bern-West!
Meine Begeisterung liess aber nach, als ich in der Zeitung las, dass Wirtschaftswissenschaftler „A-Städte“, auch Berns Westen, als solche bezeichnen, wenn darin hauptsächlich

Alte
Arme
Arbeitslose
Auszubildende
Ausländerinnen und
Ausländer

wohnen.
Ehrlich gesagt weiss ich gar nicht, was nun aus diesen Säulen werden soll. Am besten werden sie möglichst schnell alt.

Obwohl es morgens schon recht kühl ist, schiebe ich die Socken- und Strumpfzeit noch hinaus. Deshalb stehe ich ein bisschen fröstelnd an den Bushaltestelle und schaue, wie meine Mitmenschen die Übergangszeit meistern. Ein Sommer-Winter-Mischmasch vom Flip-Flop bis zum Pelzstiefel, vom Trägershirt bis zum Daunenmantel ist alles da. Man friert am Morgen oder schwitzt am Nachmittag.
Ich erinnere mich an die Kullu Dussehra in Nordindien. Dieses Fest dauert eine gute Woche und wird von den Bergbewohnern aus den hintersten abgelegensten Krächen besucht. Es ist die Gelegenheit, sich mit Waren fürs Überwintern einzudecken, sich segnen, wahrsagen und den hohlen Zahn ziehen zu lassen, ein bisschen Spass an Tanzbären, Schlangenbeschwörern, Blasmusik zu haben und als wichtige Sache sich an einem bestimmten Tag zusammen mit tausend anderen Mitmenschen ins Wintergewand zu stürzen.
Erst an der Frühlings-Dussehra wird wieder auf Sommerkleidung umgestellt.

Alte Bekannte

Nach langer Zeit bin ich ihm an diesem Wochenende wieder einmal begegnet. Meine Schwester Rosy, die mein Faible für ihn all die Jahre hindurch nicht vergessen hatte, brachte mich mit ihm zusammen. Abgesehen von der tiefen Stiel-, der weiten Kelchgrube und der Schorfanfälligkeit ist zu seinem Äusseren nicht viel zu sagen, aber der Duft dieses Apfels aus meiner Kindheit ist noch heute paradiesisch! Während die Herbststürme das alte Bauernhaus in den Balken ächzen und knacken liessen, flog ich mit Biggels in die Südsee, in die Arktis oder tauchte nach Perlen – durchlesene Nächte nicht ohne einen Kentapfel.
Es gab noch eine zweite Begegnung mit alten Bekannten. Als ich für die Bären-Wirtin einen Strauss Sonnenblumen schnitt, grüssten mich zwei Frauen über den Gartenzaun, nannten mich beim Vornamen. Sie hätten gehofft, mich hier im Dorf anzutreffen und wie sie sich nun darüber freuten. Ich sähe immer noch so aus wie vor vierzig Jahren, überhaupt hätte ich mich nicht verändert. Mein Gehirncomputer arbeitete zum Glück blitzschnell und ich konnte die beiden als Margrit und Trudi „hin tun“. Bei Kaffee und Waffeln kramten wir, zusammen mit meinem alten Vater, in Erinnerungen an unsere gemeinsame Kinderzeit in dem kleinen Bauerndorf an der Emme. Vor ihrer Heimreise baten Margrit und Trudi darum, dass ich ihnen Mutters Grab zeige.
Ich wusste gar nicht, dass meine Familie und ich bei ihnen so lange Zeit in guter und lebhafter Erinnerung geblieben waren. Ein schönes Gefühl.

Eigentlich wollte ich zu diesem Wahlplakat nichts schreiben, obwohl ich täglich von Leuten jeden Alters nach meiner Meinung darüber gefragt werde.
In der ganzen Stadt wurde das unsägliche Werk (zu den eidgenössischen Wahlen 2007) an den zugänglichen Stellen meist „abgeändert“. Hier eine gelungene Variante, welche 2nd2nd, female entdeckt und fotografiert hat.

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