März 2008


Unser Quartier kann manches nicht mehr bieten, was in meiner Kindheit noch selbstverständlich war: Deutschkenntnisse, Studienabschlüsse, Sauberkeit, Seifenkistenrennen, Kasperlitheater. Doch seit Gründerzeiten ungebrochen ist ein Talent, welches man eher in der Häuschensiedlung erwarten würde als im Block: das Handwerkeln. Ich glaube fast, wir gehören zu den letzten Winkeln Berns, wo Löcher eigenhändig zubetoniert werden, wo einfach einmal einer die Scheibe glast, wo an Bushaltestellen gestrickt und vor der Hochzeit die halbe Aussteuer gehäkelt wird.

Besonders auffällig ist die Handarbeit für die Solidaritätsbekundungen. Heute begegneten mir auf dem Bus zwei Mädchen, die kaum unter ihren viel zu grossen Baseballcaps hervorgucken konnten. Erst aus der Nähe erkannte ich, dass die schwazen Kopfbedeckungen mit knallrotem Schirm aus dem Warenpostenladen mit tibetischen Drachen und „Tibet“ bestickt waren.

Oder am Tag nach dem Unabhängigikeitstag… Ich konnte es nicht lassen, zum orangen Riesen des Quartiers ins Restaurant zu sitzen. Klein Kosovo hatte frei genommen jedem sah man an, weshalb: Frauen hatten rote Schleier mit schwarzen Adlern bestickt, kosovarische Kinder waren damit beschäftigt, das UCK-Wappen auf ein Etui, einen Rucksack, eine Jacke, ein Hosenbein zu malen. Der Renner jedoch waren die roten T-Shirts! Dass sie überhaupt in dieser Menge erworben werden konnte, liegt bestimmt an vorausschauender Einkaufpolitik kosovarischer C & A-Mitarbeiterinnen.

Manche der roten Liibli waren mit ausgefransten Filzstiftworten beschrieben, aber die Vornehmeren waren benäht. Am allerbesten hat mir mein echt debiler Nachbar gefallen, über dessen grossen Bauch sich ein riesiger schwarzer Filzadler spannte.

Auch traurige Anlässe lassen in unserem Quartier die Emsigen erwachen. Ich erinnere mich gut an den Märztag vor vier Jahren, als in Madrid die Züge und Menschen gesprengt wurden. Noch am gleichen Tag waren hier rot-gelben Solidaritätsschleifen an Kleidern und Kinderwagen aus Papier und Stoff zu sehen und Fahnen pro Zapatero und contra Aznar flatterten aus den Fenstern. Längst vergessene spanische Zierkissen, von Grossmüttern geschaffen, wurden aus dem Keller geholt, auf Sofas drappiert oder unter die Heckscheibe der Autos gelegt.

Mängisch bini so toube über mini obere Genosse u Genossinne, das i am liebschte dr Partei würd dr Ustritt gä. Aber de dänkeni wider a alli, wo sech isetze für d’Allgemeinheit, nid nume für d’Lüt vo mire Partei, so dases allne es Bitzli besser geit – u de blibeni.

So, nach dieser berndeutschen, auf den ersten Blick nicht dazu passenden Einleitung, folgt hier mein verspäteter Beitrag zum Internationalen Tag des Wassers am 22. März.

Als ich Mitte der Neuzigerjahre einen neuen Schüler fragte, weshalb seine Familie in die Schweiz gekommen sei, sagte dieser: „Kommt viel Wasser in meine Haus“. Diese Antwort erstaunte mich, da ich wusste, dass die Familie aus dem Süd-Osten der Türkei stammte, einer Gegend, die ich mir eher trocken vorstellte.
Erst viel später verstand ich, was mir das Kind mitteilen wollte: Es sprach vom Ilisu-Staudamm. Neben der einzigartigen Felsenfestung Hasankeyf und weiteren archäologischen Fundstätten soll auch das Land über eine Fläche von mindestens
313 km2 überflutet werden. Mehr als 60 000 Menschen werden dann, abgespeist mit einem mickrigen Entgeld, ihre Lebensgrundlage verloren haben.
Für dieses grössenwahnsinnige und in jeder Hinsicht gefährliche Projekt bewilligte der Schweizer Bundesrat 2007 eine Exportrisikogarantie von 225 Millionen Franken! Wer nun meint, die daran geknüpften ca. 150 Auflagen im Zusammenhang mit Umsiedlung, Umwelt- und Kulturgüterschutz würden von der türkischen Regierung eingehalten, glaubt an den Fährimann.

Äs git Lüt, di säge, alles sig vil komplexer, als wieni das gsäch. Äs gäb de Schtrom für alli ds Anatolie, e höchere Läbensstandard u meh Arbeitsplätz.
I bi dr Meinig, dases Sache git, wo d’Schwyz nid darf mitmache, komplex hin oder här!

… eine Ostern am 23. März!

Kleines Kraut ...

Während es draussen stürmt und schneit, werden im 13. Stock
die Eier mit ersten Gräsern und frühen Blumen eingebunden
und gefärbt.

... ganz gross

Auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten 2007 stehen 16 306 Tiere und Pflanzen! Es ist zu befürchten, dass sie im vergangenen halben Jahr länger geworden ist.
Nicht so ernst, aber trotzdem bedauerlich ist das Verschwinden der Ostergluggere, der Henne aus Milchschokolade, die auf ihrem Schokoladennest sitzt und Ostereier legt. Ich suche sie überall, bin sogar bereit, einen Confiserie-Preis zu bezahlen, aber abgesehen von Marzipanentenküken mit roten Hütchen finde ich nichts Federviehähnliches. Gibt es mehr zu tun, eine Henne zu giessen als einen Osterhasen mit Überbiss?
Mit Bedauern stelle ich fest: Aus Bern ist die Gluggere verschwunden. Ob es sie in anderen Städten noch gibt?

Begegnung.

Auch ich koche mit Wasser Gas.

… ändert das Wetter – oder bleibt, wie es ist. Einige von uns brauchen weder Hahn noch Wetterfrosch oder -fröschin. Sie haben ihre Gebresten, welche zuverlässig auf Wetterumschläge hinschmerzen.
In diesen Jahren hätte mich mein rechtes Sprunggelenk nach der „Adelbodner Bergrechnungs-Chronik“ arg geplagt:
1628 Später Frühling, kühler Sommer. Das Frutigdorf wurde jeden Monat überschneit.
1698 Grosser Heumangel, später Frühling.
1708/09 Unerhörte Winterkälte. Früher Frühling und unfruchtbarer Sommer.
1808 Später Frühling, nasser Sommer. Am 11. September ein Meter Neuschnee im Tal. Im November konnte man dann emden und Erdäpfel graben.
1816/17 Teuerung und Hungerjahre.
1837 Später Frühling. Die Heunot zwingt viele zur Auswanderung mit dem Vieh nach Aeschi und Reichenbach.
1883 Am 4. Juli verheerendes Hagelwetter über Schwandbäuert.
1897/98 Leichter Winter, Blumen im Januar.
1908 Am 23. und 24. Mai gewaltiger Schneefall.
1930 Am 4. Juli und 6. Juli Hochwasser.

Nach einem Artikel von Hans Bircher (aus Mutters Sammlung) vom 31.07.1987

Sonne im leeren Haus

Das alte Haus wird leerer. Immer wieder ruft jemand an
und möchte einen letzten Blick hinein werfen. Heute ist
es hier auf der „Laube“ besonders sonnig und warm.

Auf und zu

Einmal im Monat treffe ich mich mit früheren Arbeitskolleginnen in der Quartierbeiz. Wir bestellen dann Rotwein und Schinkenbrote mit Salat. Heute sitzen fünf Männer am Tisch hinter uns und hören aus drei Handys laute Musik. Ich drehe mich zu ihnen um und bitte sie, diese abzustellen. Sie werden unterschiedlich zornig und beschweren sich über mich bei der Kellnerin, als diese ihnen das Bier bringt. Die Frau kommt zu mir und erklärt, dass es mit diesen Männern hier im Restaurant immer Probleme gebe. Von Frauen liessen sie sich nichts sagen. Wir sollten sie einfach nicht beachten und uns nicht aufregen. Hoppla. Meine Kolleginnen sind auch dieser Meinung und bitten mich inständig, mich ruhig zu verhalten. „Ja, Gottfriedli, muss ich mir das gefallen lassen? Auch ich bin hier zu Hause.“ Ja, aber ich wisse doch, was passieren könne, wenn man solche Leute provoziere. Ich solle mich bitte, bitte zurück nehmen, denn ich hätte doch noch etwas anderes vor als mit einem Messer …
Später ziehen die Männer dann ab, immer noch wütend. Einer sagt mir: „Du nicht meine Chef, du nicht in dein Haus, hier Restorant, alle kann machen was gefällt, du ganz frech Frau, du kein Respekt vor Auslander!“ Dazu sage ich nichts. Innerlich muss ich ein bisschen lachen. Die Kellnerin, überraschend mutiger geworden, kommt und bittet die „Herren“, die „Damen“ in Ruhe zu lassen.
Widerstrebend zieht auch der ab, welcher mich nicht als Chef will. Unter der Tür wirft er mir einen bösen Blick zu und droht:
„Ich scheiss auf deine Kopf.“
Die Kellnerin spendiert uns auch heute einen Kaffee. Bei jedem Besuch dankt sie uns dafür, dass wir ihren Söhnen Deutsch und Mathematik und ein bisschen Gümmäng* beigebracht haben. Der Ältere konnte heute seinen Lehrvertrag unterschreiben.
(Berndeutsch für „Benehmen“, abgeleitet von „comment“, französich „wie“)

(Wir wissen ja, dass wir manche Artikel über unsere Quartiere zuerst überschlafen müssen, um sie zu verstehen. Aber immer öfter werden wir unsere widerspenstigen Gefühle auch Tags darauf nicht los.)

Überraschend ist die Erkenntnis, dass es in Hochhäusern weniger Konflikte gibt. Diese Bauten sind für viele ein Schreckgespenst. Sie gelten als Hochburgen der Anonymität. Genau dies verhindere Konflikte, sagt Professor Nett. (…) Je weniger tägliche Kontakte es gebe, je weniger die soziale Kontrolle ausgeprägt sei, desto weniger Reibungsflächen gebe es.

Warum haben wir das nicht längst gemerkt? Es erklärt so vieles!

Dass die Kassen in den Quartiervereinen von Bernwest im Vergleich zur übrigen Stadt immer gut gefüllt sind, hat nicht etwa mit dem Weitblick der Erstbewohner und der Effizienz der Freiwilligen zu tun, nein, es liegt auf der Hand: Die Schatullen sind in der Anonymität vergessen gegangen und haben keinen anderen Zweck mehr als Zinsen zu generieren.

Dass unsere quartiereigenen Kindergärten die Integration von 80% ausländischen Kindern weitaus besser schaffen, als andere Quartiere ihren viel kleineren Anteil, liegt nicht daran, dass sich die Kindergärtnerinnen und die Quartierarbeiter dafür ein Bein ausreissen, nein, es liegt an den höchst seltenen Kontakten und der eingeschränkten sozialen Kontrolle – erst so entsteht der nötige Freiraum für Selbstintegration.

Im Verzug bin ich – oh Schreck – unter anderem auch mit dem Internationalen Tag der Frau. Den habe ich doch jahrelang nie „vergessen“. (Zum Glück gings nicht allen Frauen so).
Heuer ist er mir völlig entgangen. Trotzdem hatte ich am letzten Samstag einen Frauentag, befasste ich mich doch mit dem schriftlichen Nachlass meiner Mutter.
Es überraschte mich zu sehen, wofür sie sich neben Haushalt, Familie, Feder-, Klein- und Milchvieh, Garten, Vorratshaltung sonst noch interessierte.
Als ehemaliges Verdingkind, bei dem die Schule zum Luxus gehörte, war ihr Bildungshunger unglaublich. Aber immer gab es Dringenderes, als diesen einmal annähernd stillen zu können. Mutter war Zweit- und Drittleserin der unterschiedlichsten Blätter.
Beim Durchsehen der von ihr gesammelten Zeitungsartikel, bleibt man „hängen“ und vergisst die Zeit.
Hier ein Beispiel aus „Jedioth Chadashot“ vom 12. April 1968. Es geht um ein Treffen zwischen UNO-Botschafter Jarring und Aussenminister Eban zum Frieden îm nahen Osten. Verteidigunsminister Moshe Dajan neigt dazu, die besetzten Gebiete zu räumen, aber nur mit Regelung neuer gesicherter Grenzen und Friedensgarantie. Arbeitsminister Jgal Alon tritt für die Besiedlung ein, während Aba Eban nach Kompromissen suchen möchte.
Lesenswert ist auch der Artikel aus den „Tages-Nachrichten“ vom 6. Februar 1971 „Woodstock – Das Geschäft mit der Nächstenliebe“, eine kritische Betrachtung des „Free concerts“ mit 400 000 Besuchern, bei welchem durch Merchandising Millionen gemacht wurden.
Mutter bewahrte auch den „Blick“-Artikel vom 8. September 1997 über die Internationale Funkausstellung IFA in Berlin auf, bei welcher die Schweizer Firma Logitech ihre „Maus“ vorstellte.
Wer weiss schon, dass Felix Menselssohn-Bartholdy im Berner Oberland sein letztes Konzert gab? An einem regnerischen Sommertag 1847 spielte er auf der Orgel in der Kirche Ringgenberg, während ihm ein Hirtenjunge den Blasebalg trat.
Mutter wusste es aus dem „Berner Oberländer“ vom 20. Juli 1987.

Kurz stehen gelassen und zapzarap schon weg. Wer steckt hinter den unspektakulären und misteriösen Diebstählen im Block? Unsere eigenen NachbarInnen, Handwerker, jugendliche BesucherInnen, die im Treppenhaus rauchen und trinken, ZeugInnen Jehovas, Swisscom-, Sunrise- oder CablecomvertreterInnen, organisierte VerbrecherInnen aus dem Ausland, der Bauer oder gar die Kirche Christi? Die Fälle von geklauten Flamencoplakaten, neuen Bettgarnituren, Marken-Blusen, Bohrmaschinen und Fahrrädern bleiben ungelöst. Es wäre ein Highlight in meiner Karriere, würde ich eine/n auf frischer Tat ertappen.