Oktober 2008


Zaza

Bis er gestern kurz nach dem Einnachten endlich das gedämpfte Licht der Frauenklinik erblickte, gab es viel Zeit, Kleinesmädchen auf das neue Familienmitglied vorzubereiten. Mit diesem Titel hatten wir Glück. Wir durften die Geschichte der Zebra-Familie in den vergangenen drei Wochen immer und immer wieder erzählen bis wir alle nur noch Streifen sahen.
Trotz dieser Trockenübungen war ich nicht vorbereitet auf die begeisterte Begrüssung, die Kleinesmädchen ihrem neuen Bruder bot. Er wurde geküsst, gedrückt, getätschelt und ein bisschen mit den Zähnen ins Händchen geklemmt – und endlich weinte der Kleine. Die Fachleute hatten sich schon Sorgen über das fehlende Schreien gemacht.
Nun sind wir alle ein bisschen am Ausruhen – bis Kleinesmädchen wieder ein neues Lieblingsbuch anschleppt.

Ich bin eine Woche „überfällig“, so schwer wie nie (und hoffentlich nie wieder) in meinem ganzen Leben, zwar geduldig, aber dennoch langsam genervt. Die Arbeit ist übergeben, die Wohnung aufgeräumt und sauber, jegliche Kinderkleider frisch gewaschen und sortiert, tonnenweise Windelvorrat angelegt, alle Rechnungen beglichen, der Kühlschrank voll, die Daten des Compis gesichert und mein Büntlein fürs Spital gepackt.

Um Weihnachtsgeschenke zu machen oder alte Fotos zu sortieren, finde ich irgendwie keine bequeme Position mehr. Für die Geburtsanzeige hab ich immer noch kein tiefsinniges Sprüchlein für unser frisches Kindlein gefunden. Was wohl zu ihm passt?

Kein Umzugsstress ohne den Trost:
Immerhin wird wieder einmal gründlich aufgeräumt – und hier im blogk eine virtuelle Zügelkiste eröffnet. (Kann auch als Abfallkübel benutzt werden)

Von einigen Dingen trennt man sich problemlos. Für andere sucht man nach einem neuen Pläzchen. Bei diesen fragt man sich, weshalb man sie überhaupt aufbewahrt hat. Hier ein paar Beispiele von absolut unnütz Gesammeltem:

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Endlich! Die Punkte sind fertig ausgezählt, die Details der Unterkategorien sind da. Unser Pâtissier hat den 3. Platz von den 32 weltbesten Pâtissiers errungen. Gratulation! Und Dank für all das Wunderbare, was wir immer wieder probieren dürfen. Monate lang ehrenamtlich geübt dafür und jetzt im Wortsinne fix und fertig: Die Olympiade der Köche.

Der Schweizer Nationalmannschaft hat es nicht auf die Treppe gereicht, wir sind 8. von 32 Nationalteams. Dafür hat unsere Jugendnationalmannschaft olympisches Silber errungen und die Schweizer Militärköche sind Olympiasieger (was dem VBS und Sämi Schmid gut tun wird).

So, Zyt zum Nacheschlafe. (Und auch voraus, weil wir hier bald ein neues Bébé haben werden.)

Hier an der Reception von *Bernaqua ist heute nichts zu sehen von „Tageslicht, welches bis ins zweite Untergeschoss“ fallen sollte. Die Hostessen, welche die Eintritte ins Erlebnisbad verkaufen, sitzen in einer warmen Dämmerung. Angetan mit Blusen in Meergrau, tasten sie in Schubladen und Schrank nach Kugelschreibern, Prospekten, Umschlägen, datieren und numerieren Gutscheine von Hand. Die Frauen bewegen sich langsam, als ob sie in einem Aquarium schwämmen. Wahrscheinlich stehe ich nicht lange genug an, um „die Lichtführung jeden Tag neu zu erleben, dieses Zusammenspiel von Licht und Schatten,“ wie in der Presse so hoch gelobt. Ich habe wohl die Schattenphase erwischt und bin froh, nicht in diesem Halbdunkel arbeiten zu müssen. Das sei dann ohne Spa, werde ich informiert, als ich zwei Karten verlange. Schon lange wolle ich wissen, woher dieser Begriff „Spa“ kommt. Die Hostess schaut mich nettmitleidig an. „Wellness pur eben“. „Sie können jetzt“, werde ich aufgefordert, da ich im Dunkeln die Anzeige auf dem Display des Kartenautomaten nicht sehen kann. Ich bezahle, gehe nach Hause und sehe nach, was Spa eigentlich bedeutet: Jupii, eine Bildungslücke mit Quellwasser aufgefüllt!

*Bernaqua nicht zu verwechseln mit Bernaqua!

Eine Garbe Seile

Eiger, Mönch und Jungfrau, Niesen, Stockhorn, Nünenen und Gantrisch schweben über einem leichten Nebel. Der erste Frost hat die Blätter von den Linden geholt und die Heuballen stehen aufgetürmt am Rande der Felder. Heute ist Grünabfuhr im Dorf. Stauden und Äste werden auf den Sammelplatz gebracht. Jeden Herbst falle es ihnen schwer, die Geranien abzuräumen, besonders bei diesem Prachtswetterchen, meinen die Frauen vor dem Dorfladen, während ihnen die Kastanien vom höher gelegenen Schulhausplatz an den Füssen vorbei der Kirche zu rollen.
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Heute begegnete ich im Lift nach langer Zeit wieder einmal einer jungen Albanerin. Ich hatte ihr jeweils ein wenig bei den Hausaufgaben geholfen, sie ist erst im Schulalter in die Schweiz gekommen und das Deutsch war mörderisch zu lernen. Ihren wundervollen Aufsatz über den ersten Tag nach ihrer Ankunft aus Kosova hat sie leider nicht mehr. Ein Archiv kann sich nicht leisten, wer vier Zimmer mit sieben anderen Familienmitgliedern teilt.

Ich wusste, dass sie die Diplommittelschule gemacht hatte und sich danach in Abacus Software weiterbildete, weil sie nur eine Stelle an einer Denner-Kasse gefunden hatte, dort aber nicht bleiben wollte. (Für die Statistik, dass Profit-Organisationen entgegen jeder Qualifikation möglichst keine albanischen Namen anstellen, lege ich die Hand ins Feuer, übrigens.) Ob sich das Kursgeld für Abacus lohne, hatte sie mich nämlich vor der Anmeldung skeptisch gefragt und ich habe genickt wie verrückt und dazu „Ja, ja, unbedingt!“ gerufen.

Eben, heute sehe ich sie nach langer Zeit wieder. Busy gekleidet und mit neuer Zahnspange. Ich frage also, ob es nun endlich geklappt habe mit einer Bürostelle? Aber sicher. Sie arbeite seit August als Sachbearbeiterin in einem Bundesamt.

Dieses bringe Mädel! Mit den fünf jüngeren Geschwistern! Die immer wieder zu den Grosseltern zurück mussten: kaum Wasser, kein Strom, kein Bleistift, kein Papier… Die den Kindergarten und die Schule deswegen nur lückenhaft besuchen konnten, weil der Pleitegeier über der Familie schwebte.

Wie schön.

Nachtrag: Es gibt zwei Gründe, die mich mit Stolz auf unsere Bundesämter erfüllen: Ihre Websites (immer blabla.admin.ch) und ihre Integrationsarbeit.

Frau F. ist in den letzten Monaten sehr gealtert. Trotz ihrer Schmerzen macht sie noch jeden Tag mit kleinen vorsichtigen Schrittchen ein Spaziergängli am Rollator. Falls die Krankenkasse endlich einlenkt, will sie nach Nottu, wo man ihr die alten unnütz gewordenen Medikamente entzieht und sie auf neue einstellt. Erst nachher kann sie sich Sorgen machen, was mit ihr geschieht, wenn man die Wohnung „aushöhlt“. Sie ist ganz verzweifelt darüber, dass so viele Alteingesessene dem Quartier den Rücken kehren. Sie fühlt sich allein gelassen. Seit gestern sei der Schuss draussen, dass die Caritas die leer gewordenen Wohnungen zum vollen Preis miete und während der Totalsanierung darin Asylbewerber unterbringe. Denen mache Lärm, Schmutz, fehlende Heizung und Strom nichts aus. Sie, Frau F. frage sich nur, wie man dann die Leute wieder aus den Wohnungen hinaus bringe. Einfach so auf den Parkplatz stellen könne man die „Asylanten“ ja wohl nicht.
Herr M. gesellt sich zu uns. Er seinerseits frage sich, was passieren könne, falls es mit den Banken so weiter gehe und viele, die ihr Geld hier anlegten, dieses abheben? Er habe vorsichtshalber seines schon weggenommen. Man könne nie wissen in diesen unsicheren Zeiten, plötzlich sei „die Hütte ausgehöhlt“ und kein Geld mehr da für Parkett und Glaskeramik.
In diesem Fall hätte man dann wenigstens die Asylbewerber.

Sonnenkerne

Als ich 1984 in die Wohnung im 13. Stock einzog, gab es auf dem Balkon zwei verkümmerte Föhren mit vielen immergelben Nadeln. In den Blumenkästen hatten die Mieter vor mir eine „Kopostanlage“ eingerichtet, die penetrant vor sich hin stank. Vater und Albert kamen mit Säcken, schaufelten die verfaulten Küchen- und Grünabfälle raus und füllten neue Erde in Kübel und Töpfe. Es dauerte noch einige Sommer, bis ich wusste, welche Pflanzen dem Wetter in dieser Höhe stand halten konnten. Besonders robust waren diejenigen, deren Samen vom Wind oder den Vögeln aufs Dach getragen wurden. Ab Ostern bis im November verbrachten meine Familie und meine Freunde so viel Zeit wie möglich hoch oben über der Strasse unter freiem Himmel. In diesem Jahr grünte und blühte es in den Kästen und Töpfen, dass es eine Freude war, die Himbeeren und Erdbeeren waren süss, die Kräuter wohlriechend und ich kochte viele Liter Minzentee.
Und so tue ich jetzt, was man soll: Aufhören, wenns am Schönsten.

Staengel Hosta Rebe Mauer Butten Hortrose 1 Spur Aztekengold Sonnenhasel

In der Kündigungs-Bestätigung der Verwaltung mit dem freundlichen Namen steht:

„Der Termin für die Wohnungsabgabe ist mit uns rechtzeitig zu vereinbaren. Auf diesen Zeitpunkt hin sind sämtliche Mietobjekte gemäss den Bedingungen des Mietvertrages instand zu stellen. Wir werden uns vorgängig bei Ihnen melden um abzuklären, ob nach Ihrem Auszug allfällige Renovationen gemacht werden müssen.“

In wenigen Monaten werden die Wohnungen rausgerissen, vorher müssen sie instand gestellt und renoviert werden. Alles muss blitzblank sein, wenn die Betonbeisser, Fugenschneider, Steinzangen und Abbauhämmer auffahren. Die Badewannen, Lavabos und die Wasserhahnen werden nur poliert in die Mulde gekippt. Auch die WC-Spülkästen sind, laut Beiblatt, zu entkalken. Der Mieter haftet u.a. für fleckenlosen Kochherd und aussen wie innen geputzte Doppelglasscheiben.

Dass der abgängige Mieter bei dem „mit ihnen“ rechtzeitig vereinbarten Termin sauber gekämmt sein wird, versteht sich von selbst.

Seltsam im Nebel

Schon heute früh, als dieses Foto entstand, wurde auf dem Gelände (von „Land“ ist nicht mehr viel übrig) emsig gearbeitet. Der zusätzlichen Eröffnungs-Parkplatz ist flott geteert. Solche Irrläufe sollte man sich morgen nicht antun und besser im Auto anreisen. Heute habe ich bereits meine erste Einladung zum Essen im „Westside“ bekommen. Endlich Schluss mit diesen Landbeizen, wo die Grossmutter die Servietten faltet, der Sohn den Gästen die Hand schüttelt, die Schwiegertochter das Buffet macht und Grossättis Foto in der Gaststube hängt. Die neue Zeit leuchtet hell in mein Wohnzimmer und nie mehr ist es ganz Nacht.
Diese sind gezwungenermassen umgezogen.

Bern - Mudumalai retour

Vor dreissig Jahren war im Quartier die wadenlangen Fränseli-Hose in. Allerdings erlaubten die Mütter den Kindern das Ab- und Einschneiden der Hosenbeine erst, wenn auch die geflickten „Knie“ durchgescheuert waren. Fransen mussten verdient werden und diejenige, welche mit dem Verschleiss schon einige Stufen weiter waren, wurden von denen mit den neuen Hosen beneidet. Damals gab es noch das Warenhaus ABM. Dort einzukaufen war etwa so, wie in Berns Westen wohnen: einfach unchic, etwas für Prolos. Ich liebte diesen Laden. Die Kinderkleider der Marke „Milou“ waren modern, praktisch, preigünstig – so richtige Lieblingskleider.
Diese Hose hat Fr. 13.95 gekostet. (Nein, den Kassenzettel habe ich nicht aufbewahrt. Ich habe hier nachgeschaut.)
Die Jeans war schon nicht mehr ganz neu, als meine Tochter sich mit ihren Eltern auf den Weg Richtung Osten machte, auf eine Reise, die über Stock und Stein ein ganzes Jahr dauerte.
Nun könne ich die Fränseli-Hose entsorgen, meint mein vernünftiges Kind.
Ja wie denn und wohin?

Jeans1 Jeans2
Jeans3 Jeans4 Jeans5 Jeans6
Jeans7 Jeans9

„Guete Tag, was darf si?“
„I hätti gärn es Pousebrötli“.
„Es Pousebrötli, gärn, danke. Darf süsch no öppis si?“
„Danke, das wär’s“.
„Danke öich, merci, uf Widerluege“.
„Adieu!“
„Adieu, danke!“

Heute am Morgen im Bus habe ich einen Apfel gegessen und gelesen. Es stieg ein älterer Herr zu, der sich neben mich setzte. Er hatte ein Umweltschutzcouvert in der Hand, welches an einen Albaner adressiert war und auf dem handschriftlich „IFAU“stand.

Wir sassen eng und dachten uns Geschichten übereinander aus. Ich dachte mir, dass ihm seine Tochter das Wort aufgeschrieben hat, welches er auf irgend einer Beratungsstelle können muss: „IV“. Er dachte sich vermutlich, dass ich eine schweizer Lehrerin sei, die ihr Gröibschi entsorgen möchte.

Schliesslich bat er mich um das Apfelgröibschi und warf es für mich im Abfall neben dem Buschauffeur. Er öffnete das Couvert und fragte „du Schweiz?“, was ich bejahte. Er drückte mir den Brief in den Hand. Es war ein Schreiben mit dem neuen AHV/IV-Ausweis. Ich zeigte ihm, wie er diesen ablösen konnte und riet, den Ausweis zu seinen Papieren zu legen. „Papiere“ verstehen alle und eigentlich hat jeder ältere Ausländer immer seinen Ausweis dabei. Auch Herr Ameti schob den neuen AHV/IV- Ausweis sorgfältig hinten ins abgegriffene Mäppchen seines C-Ausweises.

Aber er glaubte mir nicht, dass in dem Schreiben nichts anderes stand, es war viel zu lang. Bestimmt hätte es mit seiner Pensionierung zu tun, er sei jetzt 65 geworden. 15 Jahre „IFAU“ und 15 „Bau“ hätte er in der Schweiz gemacht. Seine Frau sei eine kranke Frau, die nur im Haus arbeite. Er fragte nach der Höhe seiner Pension, nach der Höhe ihrer Pension und wann er das Geld bekommen würde. Er konnte sehr, sehr wenige Worte Deutsch und verstand nicht viel von dem, was ich zu sagen versuchte.

Wir sind so verblieben:

Er wendet sich an sein Kind, welches in der Schweiz wohnt (andere Kinder sind im Kosovo). Wenn das nicht klappt, wendet er sich an den Briefkopf, von dem der AHV-Ausweis gekommen ist; ich habe ihm die Adresse eingekreist. Er kann sie im Notfall der nächsten lesenden Schweizerin im Bus zeigen und kommt dann – Inshalla! – zu einer Bundesstelle, die albanische Azubis hat.

Ich wünschte schönen Bairam noch Herr Ameti und stieg betrübt aus.

Vielleicht ist er einer Schweizer Schwiegertochter ein so gemeiner Schwiegervater, wie 2nd2nd einen hat, vielleicht ist er ein hilfloser, freundlicher Mann, vielleicht nichts von beidem. Aber wenn jemand nicht lesen und sprechen kann in dem Land, in dem er sein Leben verbracht hat, ist es immer falsch und immer zum Heulen.