März 2009


Mittagsrast

Mittagsrast über der Spitze des Münsterturms in Bern am 24. April 1894:
Stadtgeometer Friedrich Brönnimann (links) mit seiner ältesten Tochter und Adjunkt Mathis (aus: ISBN 978-3-03919-116-1)

Onkel Ernst wohnte in der Kramgasse und so kam ich als Landkind oft in die Stadt. Die Grossmutter flocht mir die Zöpfe, zog mir das Sonntagsröckli an, und wir fuhren im Zug nach Bern. Zuerst strebte ich dem Caran-d’Ache-Schaufenster im Bahnhof zu. Dort bewegten sich Zwerge, Bären, Hasen in lieblichen Landschaften je nach Saison, malten an Tafeln, sassen auf Stühlchen und schrieben an kleinen Tischchen mit bunten Stiften. Dazwischen lagen nigelnagelneue Farbschachteln, Kreiden, Pinsel und Bleistifte der Firma – ein Traum für ein Landkind.
Anschliessend gingen wir unter den Lauben hinuter in die Kramgasse. Am Zytglogge stand ein Verkehrspolizist mit weissen Handschuhen auf einer Kanzel. Auch hier brachte Grossmutter mich nicht so schnell weg.
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Eigentlich jage man bei einem solchen Regen keinen Hund aus dem Haus, meint eine Genossin, aber der Vortrag zu „Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug“ werde sicher interessant und ausserdem schwemme der Regen alles Zeugs weg, was auch nötig sei. Ich mag nicht fragen, welches Zeugs sie meint. Nach und nach tropfen noch weitere Genossinnen und Genossen ins Säli. Ich zähle 25, Durchnittsalter 60. Es dürfen drei neue Mitglieder, davon zwei anwesend, mit Kuss und rotem Schoggiherz begrüsst werden. Nach einer heftigen Diskussion um ein Bauvorhaben auf der grünen Wiese (Recycling und Sortierwerk von Bauschutt), gehts ziemlich verspätet zur Bewährungshilfe. Zuerst gibts ein paar Grafiken und Karten in Militärgrün und Blutrot und dann die Geschichte von einem Klienten, den die Referentin „Tim“ nennt. Sie hat ihn fünf Jahre durch den Strafvollzug begleitet und ihn so weit einsichtig gemacht, dass der Bursche ein „Gefühl für die Ängste seiner Opfer bekam“. Er hatte sie gefesselt und ihnen eine Pistole an die Schläfe gesetzt – natürlich ungeladen, wie Tim die ganzen Jahre stets beteuerte. Sogar eingezahlt für die „Opferhilfe“ habe er. Schritt für Schritt habe man ihn einem normalen Leben entgegen geführt, zwar mit elektronischen Fussfessel, aber in Wohnung mit Freundin und bald auch Kind.
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Wider einmal haben sich fremde Fötzel auf dem lieblichen See nahe an meinem Quartier angesiedelt. Obwohl ihnen das streng verboten ist, haben sie ein Nest gebaut und – welche Chuzpe – auch noch Eier gelegt. Ich nehme an, dass der Jagdinspektor P.J. es nicht selber erledigte, sondern seinen Wildhüter H.U.H. anwies, die Eier der Exoten anzustechen, um so „eine unkontrollierte Ausbreitung“ zu vermeiden. Nun bleibt dem armen Mann der „ethische Konflikt“ (Link erneuert am 07.06.22) nicht erspart.
Weiss denn heute nicht jedes Kind, dass das Beobachten von Pärchen durch Feldstecher nicht ausreicht, um Fortpflanzung zu verhindern?

Licht für die Nachtfalter

Meine Mittagspause verbringe ich im Antiquariat am Rathausplatz, eingezwängt zwischen Büchergestellen, Kisten und Kunden. Jemand hat eine Platte von Georges Brassens aufgelegt. Der Ladeninhaber ist gestorben und ein Kilo Bücher kostet heute Fr. 1.- (Ich verlasse das altehrwürdige Geschäft mit bescheidenen 5 Titeln).
Die Biese fegt durch die Gassen und bläst Walme von Zibelemärit- und Fasnachtskonfettis an die alten Mauern. Heute ist Vermummung angesagt. Ein Strassenmusiker auf der Münsterplattform singt französische Chansons. Im Schwellenmätteli liegen die Kiesbänke trocken in der Sonne. Von Schmelzwasser keine Spur. In den Lauben wird die Beleuchtung für die Museumsnacht installiert und die Motten machen einen Probeflug.

Motten in der Laube

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Dass die vier Schweizerinnen von ihrer Reise durch Marokko begeistert sind, hängt sehr mit dem einheimischen Reiseführer zusammen. Er führt die Frauen an die schönsten Plätze und weiss zu berichten, was in keinem Buch steht. Die Touristinnen sind von diesem charmanten, gut aussehenden, hilfsbereiten Mann sehr angetan.
Wieder zurück in der Schweiz, schicken sie ihm ein Dankespaket. Zu ihrer grossen Enttäuschung bleibt eine Antwort aus dem Magreb aus. Mindestens eine Karte hätten sie schon erwartet.
Sie können sich nicht vorstellen, dass bereits andere Touristinnen an die schönen Plätze geführt werden und im Beduinenzelt Kuskus essen. Der Reiseführer erinnert sich wahrscheinlich nur noch schwach an „Der Chef“, „Der General“, „Der 6. August“, „Das gelbe Pferd“. Bereits hat er in der Sprache des Hohen Atlas neue Namen an neue Kundinnen vergeben.
Die Frau des charmanten Guides nimmts gelassen. Sie weiss, wie unmöglich ihr „Omar Sharif“ zu Hause ist.
Ganz klar, dass sie ihm das Schreiben der Dankeskarten nicht abnimmt.

Manchmal sei es schon eine Herausforderung, neben Frau Kessler zu wohnen, erzählt mir eine Freundin. Besonders die Katze der alten Frau sei eine Plage fürs Quartier, sehe aus, wie ein Löwe und miaue den ganzen Tag. Das nerve auch Frau Kessler in ihrem verrauchten Logis. Täglich beschimpfe sie das magere Raubtier: „Du dumme Kuh, du, halt endlich die Schnauze, du, sonst drehe ich dir den Hals um! Hau doch endlich ab, du Verrückte, bevor ich auch noch verrückt werde!“ So gehe es den ganzen Tag, während Frau Kessler Glimmstengel um Glimmstengel durchziehe. Die Katze sei ein Überbleibsel ihres vor einem Jahr verstorbenen Mannes. (Sie hielt die Totenwache und liess niemanden an den Leichnam heran, bis ihr ein beherzter Sanitäter einen Sack über den Kopf stülpte).
Letzthin, es war schon spät am Abend und sehr kalt, ging Frau Kessler auf der Terrasse hin und her. Sie war barfuss und nur mit einem Nachthemd bekleidet: „Simbeli, Simbeli-Büsbüsbüs“, rief sie in einem fort. „Sie sucht die Katze“, sagte meine Freundin zu ihrem Mann und zog den Mantel an. „Du wirst doch nicht das Vieh suchen helfen?“ murrte der Gatte. „Das ist eine Sache der Nächstenliebe“, meinte meine Freundin. Sie zog Frau Frau Kessler eine Jacke über und brachte ihr die Finken. Dann ging sie durchs nächtliche Quartier und sah an der erleuchteten Tankstelle die Katze hocken. Bevor diese entwischen konnte, packte meine Freundin den „Löwen“, an dem sie jede Rippe spürte und dessen struppigem Fell ein „Jon“ von Zigarettenrauch entstieg.
Noch lange hörten die Nachbarn, wie Frau Kessler ihre Katze beschimpfte: „Du blöde Kuh, ich drehe dir den Hals um…!“

In vier Jahren geht Frau Kessler ins Altersheim. Sie hofft, dass der heute 17jährige „Simbelisimbelibüsbüsbüs“ diesen Umzug noch zusammen mit ihr durchzieht.

Im 11. Stock ganz links blinkt noch Weihnachtsdekoration am Fester, in der Wohnung gleich daneben bügelt eine Frau. Wenn sie die grossen Tücher ausschüttelt verdeckt sie mir die Sicht, aber beim Zusammenfalten sehe ich ihre schmale Gestalt, die dünnen Arme weit ausgestreckt und doch zu kurz. Genau darunter im 9. kocht jemand und rennt regelmässig zu einer grossen, braunen Sofaecke und zurück in die Küche, vielleicht schreit ein Kind nach der Flasche. Etwas weiter links unten im 7. ist die Wohnung hell erleuchtet, das Licht brennt in jedem der drei Zimmer. Doch hat es kaum Möbel und die Wände sind kahl. Wahrscheinlich ein Umzug. An den Fensterscheiben kleben drei A3-Blätter. Die Wohnungen darum herum liegen bereits im Dunkeln, aber weiter links im 6. flackert eine Kerze hinter einem orange Vorhang. In mehreren Wohnzimmern darunter läuft das gleiche Sportpragramm, dem grünen Bild nach zu schliessen Fussball. Die drei Stockwerke der Untergeschosse sind finster, nur in einer Stube sitzen sich zwei gegenüber und rauchen.

Wer mit Telefonbuch, Pschyrembel, SBB-Fahrplan, Publicus, Statistischen Jahrbuch schon durch ist, sollte es unbedingt mit dem „Kommentar zum Europäischen Arzneibuch“ (10 Ordner) versuchen – ein richtiger Gesundbrunnen für Laien!

Aprotinin
Atropin
Arginin
Asparigin

Benzocain
Benazepril
Benzyl
Biotin
Bisacodyl

Cefalotin
Cefapirin
Cefatrizin
Cefazolin
Ceftazidim
Cefuroximaxetil …

aber auch:

Bärentraubenblätter
Eschenblätter
Ginkoblätter
Spitzwegerichblätter
Zitronenverbenenblätter
Arnikablütenblätter

Lindenblüten
Malvenblüten
Holunderblüten
Hibiskusblüten
Weissdornblüten
Bitterorangenblüten

Vogelknöterichkraut
Blutweiderichkraut
Wassernabelkraut

Taigawurzel
Grosser Wiesenknopfwurzel
Teufelskrallenwurzel
Baldrianwurzel
Liebstöckelwurzel
Süssholzwurzel
Roter Sonnenhut-Wurzel

Mariendistelfrüchte
Mönchspfefferfrüchte
Sägepalmenfrüchte

Zimtrinde
Zitronenrinde
Weidenrinde

Sternänis
Artischocke
Thymian
Bockshornklee
Bitterklee
Fieberklee

Honig

Die Berner Volkszeitung vom 27. dies sagt:
es sei den Wählern befohlen worden, mindestens mich in Kirchberg zu wählen, da ich mich erklärt hätte, die Wahl hier anzunehmen. Dass ich mich über die Annahme einer Wahl ausgesprochen, nun ist unrichtig.

Burgdorf, den 23. Februar 1846
Sury, von Wyler, Grossrath

Aus: Beilage zur Berner Berner Volkszeitung Nr. 27, Feb. 1846