September 2009


Heute arbeitete ich vor dem Westside an der Sonne in der Hoffnung, von ihr etwas Antrieb zu bekommen, was rückblickend halbwegs gelungen ist.

Neben mir sassen die Fernsehleute im Kaffee, sie hatten eben beim Hotel ausgecheckt. Das Handy klingelte und die SF DRS Direktorin schien dran zu sein. Sie fragte offenbar nach den Einschaltquoten und dem medialen Feed-back in der Printpresse im fernen Bern.

Man liege nicht im „Reinsch“ (Range? sic.) der Traviata, aber nach der Liebesszene seien die Leute ganz gut dran geblieben. Das werde wohl akzeptiert, immerhin sei die Einmaligkeit des Ereignisses massgebend für das sich abzeichnende internationale Interesse, man sei mit Frankreich, Italien, Irland und den USA in Verhandlung. Und ja, in Bern sei man auf beiden Titelseiten gewesen, bei der einen Tageszeitung auch noch im Innenteil. Die Direktorin scheint damit vorläufig ausreichend informiert zu sein und hängt ziemlich abrupt ein.

95% seien begeistert von der Oper im Quartier. Der Rest fühle sich besonders von der Spider-Kamera in der Privatsphäre gestört. Die glänzende Spinne hängt an zwischen den Blöcken verankerten Tauen und blinzelt rot, wenn sie daran auf und ab kraxelt und filmt. Seit Juni wird mit den einheimischen Statisten gearbeitet. Frau Schneider und Frau Burger wurden aus einem grossen Angebot als Waschfrauen ausgewählt. In der Waschküche waschen sie ihre echte Schmutzwäsche, während daneben in den höchsten Tönen gesungen wird. Frau Schneider hat noch einen weiteren Auftritt in einer Szene vor der Pizzeria. Dazu musste sie sich einen Partner suchen, um mit ihm untergehakt über den Platz zu gehen. (Die Suche erwies sich als schwierig, da einige der angefragten Männer das Gerede fürchteten). Nun träppelet der Mann einer Nachbarin mit der „Waschfrau“ Arm in Arm durchs Bild – kein Problem. Unter der bunt beleuchteten Brücke singt die schwindsüchtige Mimi herzzerreissend. „Sicher stirbt sie bald.“ „Nein, nein, nicht hier in der Öffentlichkeit“, meint eine Frau mit Rucksack. „Sie stirbt zu Hause in der WG.“

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Rosen Orchideen.
Bei Herrn Feldmann steht ein Blumentopf auf dem Schreibtisch. „Wenn du nicht bald blühst, werfe ich dich weg!“ Jahrelang droht der Mann der verselbelten Pflanze. Endlich, nach fünf Jahren, entschliesst sich diese zu neuem Blühen. Herr Feldmann, ein pensionierter Kinderarzt, ist glücklich und erzählt es dem Hauswart.

Wir haben es ja schon geschrieben, im Quartier wird Oper gemacht. Dabei sieht man aber nichts Öperliches, sondern Fernseh-Equipment, eine Masse TV-Leute und dann und wann eine Sopranistin (welche sogar bloggt) oder ein paar Statisten.

Doch inzwischen sind alle nett.

Das ist ja das Schöne am Ghetto: hier trägt niemand lange die Nase hoch, nicht einmal das Zürcher Fernsehen. Und wenn sie über ihre eigenen Kabel stolpern und mit Löchern in der Stirn ins nächste Spital gefahren werden müssen, tun sie einem wirklich leid. (1st hat es zahlreiche Male beschrieben als sie noch hier wohnte: wir haben seit Jahren Baustelle, es gibt praktisch nur Treppen und Absätze und unbeleuchtete Winkel und Hindernisse. Jung und Alt fallen immer wieder irgendwo drüber, rein oder runter.)

Als ich heute nach Hause kam und zwischen den Kabelrollen und Kameras zwecks Leerung zu meinem Briefkasten steuerte, meinte ein schnittiger TV-ler: „Schon praktisch, wenn man immer neben den Briefkästen steht und sieht wie alle heissen. Dann weiss man auch, bei wem man sich gern zum Essen einladen lassen würde.“ „Sind Sie hungrig?“ frage ich nett. „Es geht grad noch…“ meint er. „Der Ramadan ist gerade vorbei, Sie können sich jederzeit melden,“ biete ich lächelnd an und er lächelt – nur noch wenig erstaunt – zurück.

Wie gesagt: TV-Staff ist schon in Ordnung.

Es freue sie ja auch, dass die Familie das Wochenende so genossen hätte, aber nun sei endlich genug gedankt, meinen die beiden Geburtstagskinder, welche uns ins Hotel am See eingeladen hatten.
Unglaublich, wie schnell man sich als Blockbewohnerin an ein Fünfsternehotel gewöhnen kann. Zum Empfang des reisestaubigen Gastes werden in der Loundge warmweiche Erfrischungstücher gereicht, auf Serviertablett mit Zange. Dann gibts einen Kelch Cidre. Vor dem Fenster der Niesen, welcher einen Wolkenkragen trägt.
Ehe man sichs (als Spa-Hasserin) versieht, schlappt man in Bademantel, Riesenbadetuch „am Arfel“ durch teppichbelegte Gänge, der Wellnessoase zu – und bleibt stundenlang. Man hängt wie ein Walfisch im warmen Salzwasser in welches einige Regentropfen fallen, wartet auf Blubber, Strömung und Strahl aus Düsen. Nach einigen Längen schwimmen im Hallenbad wird es Zeit für die Bodylotion „Alpiénne“ aus einheimischen Kräutern und „Babor“, die Blitzverjüngungskur aus der Ampulle (mit einem Kleenex sorgfältig die Spitze abbrechen und gleichmässig auf Gesicht, Hals und Decollté auftragen). Zum Apéro erscheinen alle porentief rein, duftend wie eine Alpenwiese und sichtbar verjüngt.

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Niesen

Ausnahmsweise hat auch unsere Sippe einmal ein Schnapsdatum für eine kleine Familienfeier genutzt. Wir haben den runden Geburtstag von mir und 2nd, male am 19.9.2009 auswärts begangen. Das war nicht Absicht sondern einfach die Mitte zwischen unseren Geburtsdaten. Wir hatten ein richtig erholsames Wochenende mit schöner Aussicht auf den Niesen und die kommenden Jahre.

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Als ich zur Bushaltestelle komme, ist der Streit schon in vollem Gange.
„Du schwarze Aff, gang zrugg uf Afrika, am beschte imene Flugzüg mitere Bombe drin!“ wettert die ältere Frau, und weicht keinen Schritt zurück, als der Beschimpfte auf sie zukommt: „Du Schlange mit Gift, pass uuf, wotjusei!“
Ich stelle mich neben die Frau, nehme sie leicht am Arm: „Chömet, löt ne la si, das bringt doch nüt.“ Frau schaut mich freundlich an und beruhigt sich erstaunlich schnell. Der schwarze Mann gehört zu einem kleinen Jungen und einer Frau mit schweren Koffern. Er ist immer noch zornig und verlangt, dass die Giftschlange das mit dem schwarzen Affen und der Bombe wiederholt. „I ha gseit, was i gseit ha“, zischt diese halb hinter meinem Rücken. Der Junge kommt, schlägt mit kleinen Fäusten auf Vaters Beine und versucht, ihn weg zu zerren. Die schwarze Frau, die sich bis jetzt nicht eingemischt hatte, öffnet eines der Gepäckstücke und nimmt ein Buch hervor. Es ist in Leder gebunden und mit zahlreichen Merkzetteln versehen. „Das ist die Bibel und hier drin steht, dass wir einander mit Liebe begegnen sollen“. „Isch mir egau, was dert steit, i ga nie id Chiuche.“ Die Bibelfrau sagt, dass die Erde allen gehöre und die Hautfarbe bei der Liebe Jesu zu den Menschen keine Rolle spiele. Ein junger hünenhafter Tamile nimmt seine Ohrstöpsel raus und versucht der Predigerin klar zu machen, dass es sich hier um einen hoffnungslosen Fall handle. Der Tamile und ich entschuldigen uns, schon wegen des Jungen. Wir helfen das Gepäck im Bus verstauen. Auf dem Rollkoffer steht „Jesus.com“

Endlich kommt ein „Auswärtiger“ und sagt über das sonst so geschmähte Quartier etwas Nettes.
Das wird sicher wunderbar. Ausserdem lernen wir nach den begabten Rappern mit albanischen Wurzeln, einmal einen albanischen Tenor kennen.
Ja, ja, ich weiss, dass die Moderatorin Sandra S. es schafft, einem die beste Sendung zu vermiesen

„Die Handwerker brauchten zwei Stunden, um die Halterung des neuen Fernsehers mit Sandsteindübeln in der Wand zu verankern. Schliesslich wiegt der Bildschirm 35 Kilo. Aber jetzt ist alles bombensicher. Der Beamer wird später an die Decke montiert, sobald die neuen Vorhänge, die dann als Leinwand dienen, aufgehängt sind. Mehr Wände bräuchte man in der neue Wohnung, aber irgendwie gehts immer. Gegenwärtig ist es noch ziemlich lärmig, da die Folgen eines grösseren Wasserschadens bei Nachbars behoben werden müssen. So einen Parkettboden kann man ja nicht geräuschlos heraus reissen. Bis jetzt ist im Eingang noch keine Familie mit Kindern eingezogen. Hoffentlich bleibt das so, denn die Wohnungen sind eigentlich nur geeignet für Singels oder Paare. Wenn keine Kinder kommen, gibt es auch keine neue Schule, welche ein Pech wäre, so direkt vor dem Fenster. Im Nachhinein und im Hinblick auf die Schule hätten wir die Wohnung nicht gekauft. Für eine Einsprache ist es leider noch zu früh, auch für das Anmelden einer Wertminderung.“
Die Frau neben mir im Bus spricht mit einem jungen Paar, er Schweizer, sie Asiatin. Die beiden haben letzten Oktober auch eine Wohnung in der neuen Siedlung gekauft. Sie sind gegen eine Schule. Von Kindern verstehen sie nichts. Gibt es in ihrer Familie überhaupt Kinder? Nein, glaub nicht. In der Familie der Asiatin gibt es keine. Der junge Mann überlegt. Doch, sein Bruder hat eins, aber nur ein ganz winziges. Ein angenehmes Kind, immer zufrieden. Wenns weinen will, gehen die Eltern mit ihm nach Hause.
Wären alle neuen Bewohnerinnen und Bewohner so, müsste man den Namen der Siedlung ändern.

Ich weiss nicht, wann der Gartenbauunterricht an den Berner Schulen eingestellt wurde. Eine Zeitlang war er noch Wahlfach wie „Flöteln“, „Töpfern“ oder „Handball“. Fürs Gärtnern interessierte sich kaum jemand.
So krauten und wuchern einige Schul-Pflanzplätze vor sich hin, seis als Ablage für allerlei Gerümpel oder als Schnecken-Eldorado, sicher aber als Ägernis für die Anwohner.
Familie Blogk hat, zusammen mit dem neuen Hausmeister des Schulhauses, einen dieser vergessenen Gärten aufgeräumt – auf Kosten des Blogschreibens. Noch würden wir jeden Kürbis-Wettbewerb verlieren, die Böhnchen reichten für den Salat, Malven und Kosmeen sind ein bisschen schwächlich und der Weg zu einer kräftigen Stockrose noch weit. Dafür sind die Schnecken dick und rostrot, halten trotz Hacken und Rechen die Stellung. Ratschläge zu ihrer Dezimierung erhalte ich täglich. Korn, Salz, Messer, Bier!!! Ein Igel der Wildstation auf Schloss Landshut sei das einzig Richtige. Die Sonnenblumen aus Kernen, die mein Vater in seinem letzten Lebenssommer trocknete, gedeihen allerdings prächtig. Lauch und Krautstiel aus dem alten neuen Garten wurde am Familientisch (immer Montagabend) mit Begeisterung verputzt.
Noch sind wir nicht überfordert mit einer Riesenzucchetti, einer Tasche Zwetschgen oder Bohnen aus der Hand arrivierter Gärtenrinnen und Gärtner, aber ich habe Zwiebeln „mit Keimgarantie“ in die Erde gesetzt. Sollten Sie nächsten Frühling einen Bund Zwiebeln im Briefkasten oder auf Ihrem Schuhschrank vorfinden – sie sind von mir.

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Seitdem wir WESTside haben, sind unsere Nächte und Stuben immer hell. Wir schneiden Haare und Bäume, wies unsere Termine erlauben, säen, waschen und heiraten ohne auf den Mann im Mond zu achten, schütteln den Kopf, wenn jemand fragt, ob wir den Vollmond auch spürten. Nein, denn wir sind resistent.
Wenn die absolut anspruchslose Phacelia auf dem Beet verkümmert, denken wir nicht an den missachteten Mondkalender, und suberwui geht man bei zunehmendem Mond zum Zahnarzt, statt sich bei abnehmendem Mond Schmerzen zu ersparen.
Heute scheint der Mondhousi still und freundlich in mein Schlafzimmer.
Ich ziehe die Vorhänge nicht zu.

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