Januar 2011


Ich war letzte Woche bei der Dentalhygienikerin, die dieses Mal ein Dentalhygieniker war. Er stellte sich vor und erzählte mir, meine Dentalhygienikerin mache ein Austauschjahr in den USA und werde beim nächsten Mal wieder für mich da sein. Ich hörte seinen merkwürdigen Akzent, las nochmal sein Namensschild und konnte ihn doch nicht schubladisieren. Nachdem er mir eine ausgezeichnete Behandlung hat angedeihen lassen – was bei mir nicht einfach ist, weil meine Zähne es nicht sind -fragte ich ihn dann doch, woher sein Name stamme? „Aus Iran“ antwortete er. Und da ich ja zu den Unbelehrbaren gehöre, die Zuwanderung nötig finden, erkundigte ich mich noch, ob er schon länger hier sei und was er plane, wenn die Stellvertreung auslaufe? Er sagte, er sei nun acht Jahre in der Schweiz und vorher in Skandinavien gewesen und wie es weitergehe, werde sich weisen. Acht Jahre schon, entgegnete ich, dann sei es wohl zu spät, ihn willkommen zu heissen und zu fragen, wie es ihm gefalle hier. Oh, nein, nie zu spät, meinte er strahlend, ich sei die erste, die frage. Und also redeten wir, bis die nächste Klientin kam.

Eigentlich wüsste ich es ja, es schreit mir von Plakatwänden und aus Schlagzeilen entgegen: In der Schweiz muss jeder permanent dankbar sein, dass er sich überhaupt auf unserem helvetischen Boden bewegen darf. Und sobald er nur ein bisschen dazugehört, hackt er auf den nächsten ein, der neu kommt. Nur Touristen werden gefragt, ob und wie es ihnen hier gefällt.

Die einfache Regel, dass das Verhalten von Gastgebern und Gästen auf Gegenseitigkeit beruht und dass einer von beiden in Güte anfangen muss, was in Minne weitergehen soll, kennt jeder. Schliesslich wird sie von der Odyssee, dem Nibelungenlied, der Bibel, vom Talmud und Koran seit jeher vermittelt und mit apokalyptischen Beispielen von Fehlverhalten illustriert. Was nur hindert hier und heute die simple Anwendung?

Beim Umzug habe ich meine Tabletten verloren. Oder habe ich sie ihrer Lebenswichtigkeit wegen nur zu gut versorgt? Gut, dass ichs noch rechtzeitig gemerkt habe, sonst wäre ich dann blöd dran gewesen, wenn die Behörden, und nur sie, die Einnahme anordnen würden. Keine Ahnung, ob sie das noch könnten bei „einem schweren Kernkraftwerkunfall mit Bruch des Sicherheitsbehälters“. Die Anordnenden müssten ja dann schleunigst ihre eigenen Tabletten suchen, falls sie auch so nahe an Mühleberg wohnen, wie ich.
Meine Kinder brachten mir eine neue Packung, die ich nun neben die Phytomed-Kügelchen und das Padma 28 lege. Zur Sicherheit übte ich heute die Packung in der Packung auszupacken. Ich las auch die beiden sehr klein gedruckten Packungsbeilagen. Hätte ich damit gewartet bis zum Ernstfall, hätte sich das radioaktive Iod längst in meiner Schilddrüse abgelagert und die Tabletten wären nicht einmal mehr für die Katze gut gewesen.
Oder wäre es doch besser, die Tabletten in der Handtasche … ?
Wenn ich den Befürwortern für ein neues Kernkraftwerk in meiner Nachbarschaft glaubte, könnte ich die Schachtel ruhig wieder verlieren, gäbe es nicht noch diese

Dass ich nun vor meinem Garten ins Tram ein- und zweiundzwanzig Minuten später vor meiner Bürotür aussteigen kann, ist bequem. Seitdem Kartoffelacker und Maisfeld in Berns Westen überbaut sind mit niedrigen Blöcken im Einfamilienhauslook, treffe ich auf meinem Arbeitsweg kaum mehr ein bekanntes Gesicht. Ungestört kann ich Zeitung und Bücher lesen. Allerdings sind auch die Alltagsgeschichten, die tragischen, unglaublichen, skurrilen, fantastischen, weg. Wer morgens auf dem Arbeitsweg seine Ruhe will, hat sie nun. Mir fehlen sie, diese Geschichten, direkt aus dem prallen Leben gegriffen. Nein, weg sind sie nicht. Sie müssen weiter erzählt werden, z.B. in der Quartierbeiz.
In kürzerster Zeit erhält man da ungefragt u.a. eine Zusammenfassung der bös- und gutartigen Gewächse, welche alle auf -om enden. Keine Buchweisheiten, alles erlebt und erlitten in der nächsten Nachbarschaft. Da wird ein langjähriges Om aus dem Kopf einer Frau operiert, ohne ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein Härchen zu krümmen. Das Wunderwerk vollbringt ein Schönheitschirurg in einer knappen Stunde. Die Patientin fährt anschliessend mit dem Zug nach Hause.
Oder man entfernt einen Magen, eine Schilddrüse, eine Gebärmutter oder „Du-weisst-schon-was“ bei Hans oder Werner. Zum Glück überleben die meisten. Klar ist es heikel, danach all die Medikamente einzustellen.
Einige der Genesenen sind nach der Krankheit dickköpfig geworden, wollen nicht mehr aufs gut Gemeinte hören, dabei könnten sie sich doch so gäbig günschtig erholen in der kleinen Pension aussersaison in Venedig. Aber nein, da nützt alles Zureden nichts.
Nur die alte Katze von Frau Kessler hat das Zeitliche gesegnet, ist ihrem Herrchen in den Himmel voller Tennisbälle gefolgt. Frau Kessler ist froh und hat das gehasste Tier kremieren lassen. Die reiche Tochter ist extra aus Gstaad angereist und hat das Ürnelchen in Frau Kesslers Garten beigesetzt.
Letzten Samstag wurde Frau Roth auf ihrem nächtlichen Heimweg überfallen und beraubt. Wie oft hatte ihr Ex schon gesagt, sie solle die Beiz früher schliessen und die paar angeleimten Süffel vor Mitternacht spedieren. Aber nein, Frau Roth hat halt ihren eigenen Kopf und die Beiz gehört ihr. Aber das muss sie nun büssen, das Samstagsgeld ist weg, dafür viele blaue Flecke auf Gesicht und Beinen und immer noch keine sachdienlichen Hinweise. Selber schuld.
Wollt ihr wissen, wie ein dubelisicherer Überfall geht? Tatort: Neue Fussgängerunterführung beim Bahnübergang. Mann/Frau schaue auf den Fahrplan, warte im Auto mit laufendem Motor vor der geschlossenen Barriere, hechte kurz bevor der Zug die Strasse überquert, die Treppe hinab in die Unterführung, entreisse einem überraschten Passanten, einer Passantin die Tasche (mit Migroseinkauf oder Geld von der nahen Post/Bank). Der Lärm des Zugs erstickt eventuelle Protestschreie. Dann zurück ins Auto und unter der sich öffnenden Barriere durch nichts wie weg.

Zum zweiten Mal in den vergangenen Tagen werde ich von einem Kundenberater „meines“ Netzbetreibers angerufen. Auch heute meldet sich der Mann nur mit dem Firmennamen. Die Verbindung ist schlecht.
(An dieser Stelle habe ich schon vor Jahren geschrieben, dass man bei einem solchen Anbieter besser nicht ins Senkloch fallen sollte.)
Ich: „Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Sind sie Herr Andres?“
Mr. Sun: „Nein, ganz …. nicht!!“
Ich: „Ich verstehe Sie sehr schlecht.“
Mr. Sun: „…. Sie sehrg…“
Ich: „Laut vorliegendem Vertrag kann ich mein Abo auf Ende des Monats kündigen.“ (Ich lese entsprechenden § 8 vor.)
Mr. Sun: „Benutz…Sienie….Intern….? ….brauch….uns?“

Den Gesprächsfetzen entnehme ich, dass mein Vertrag noch ein Jahr weiter läuft und ich, falls ich auf einer Kündigung bestehe, Fr. 250.- Busse zu zahlen habe.
Wahrscheinlich habe ich eine ganz grüne Nuss am Draht, und das Gespräch wird erst noch aufgezeichnet.
Kein Problem, ich bringe das Band schon voll. Sicher wird es zu Lehrzwecken unbrauchbar sein, denn das Gähnen am anderen Ende ist unüberhörbar.
Heiser entschuldige ich mich bei mir selber, dass ich diese Strapazen des Anbieterwechsels nicht schon vor Jahren auf mich genommen habe.

Und nun noch etwas Erfreuliches zum Tage:
Nachdem ich 2010 literaturpreismässig lange allein auf weiter Flur richtig getippt hatte, erreichte mich heute die gute Nachricht, dass mein Favorit, der Regenwurm, zum Tier des Jahres 2011 gewählt wurde.