2013


Wie in beinahe jeder Familie gab es bei uns im vergangenen Jahr viel Schönes, aber auch Schmerzliches zu erleben. Sich aufeinander verlassen zu können und liebe Freunde zu haben, ist ein Glück und dafür danke ich allen!

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… Voll sparen will der Bundesrat erst bei künftigen Witwen, die heute noch jung sind.

Aus: „Der Bund“ zu den
Sparplänen des Sozialministers Alain Berset, 23.12.13, S. 1

Als die reformierte Kirche Ende der achziger Jahre den Jugentreff schloss und den Beitrag an die Quartierbibliothek (Fr. 4000.-/Jahr) mit der Begründung aufkündigte, die Angebote würden ja hauptsächlich von „Nichtchristen“ genutzt, trat sie aus der Kirche aus. Der Pfarrer bat sie inständig, diesen Entschluss zu überdenken und sich wenigstens ein Türchen … Die Austrittsgründe möge sie doch bitte einem Ausschuss des Kirchgemeinderats darlegen. Sie unterschrieb das Austrittsformular bei der Kirchensekretärin Frau Freudiger, die ausserdienstlich ins Büro kam (der Gerechtigkeit halber muss geschrieben werden, dass auch ihr Pensum um 15% gekürzt worden war). Somit fiel das Türchen zu.
Das war vor 25 Jahren.

Da der Schnee anstatt auf der Erde im Sprunggelenk sich anhäuft, also kein festlicher Schneespaziergang, beschliesst sie, wieder einmal in die Kirche zu gehen. Die Auswahl der Events im Quartier sind vielfältig: „Kirche im Quartier“, „Familiengottesdienst mit anschliessendem Nachtessen“, „Festliche Mitternachtsmesse“, „Christnachtfeier“, „Gemeindeweihnacht“, „Weihnachtsgottesdienst mit oder ohne Abendmahl“. Sie wählt Familiengottesdienst „Mitsingweihnachten“ da sie gerne mitsingt, d.h. im Alter nun gerne mitbrummt. Sie weiss unzählige Strophen auswendig, aber leider werden die Lieder in der Kirche alle zu hoch angestimmt.

Zusammen mit zwei willigen Familienmitgliedern marschiert sie unter dröhnenden Glockenklängen (der moderne Turm ist viel zu niedrig), vorbei an den Reihenhäusern, deren Fenster festlich scheppern, zur Kirche. Rechaudkerzen in Konfigläsern weisen den Weg. Das Gotteshaus ist gut besetzt. An drei Rottannen (einheimisch, anspruchslos, preisgünstig) brennen die Kerzen. Keine Kugel verdirbt die Schlichtheit. Ausser dem Notebook auf dem Pult vorne im Schiff hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert.

Sogar der grosse Stern hängt noch an der Wand, in den Achzigern gepatchworkt von den Dienstagsfrauen der Kirche.
Man hat sie damals zu diesem geselligfrohen Sticheln Nähen auch eingeladen. Obwohl sie zu dieser Zeit mit der Nadel flink umgehen konnte und so manch altes Kleidungsstück in herzige Kinderkleidchen umnähte, hielt sie sich von diesen Dienstagsfrauen fern. Ihre Freundin Heidi hat das nicht getan, trat in die bereits eng zusammengesteppte Gruppe ein. Heidis Dienstagsstiche an den Sternenschnipseln wurden von der Oberdienstagsfrau jeden Montag aufgetrennt, weil zu wenig fein. Heidi verliess, völlig zerknittert und zerstochen die Frauengemeinschaft noch bevor „der Stern“ alle seine Zacken hatte.

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„Letzte Weihnachten hatten Sie eine Nobilis“, hilft der Forstwart meinem Gedächtnis nach. „Stimmt, wissen Sie von allen Bäumen, wohin sie gehen?“ Nein, von allen wisse er es wohl gerade nicht, aber doch von den meisten. Sind Christbäume für ihn wie Bücher für mich? Noch heute weiss ich von sehr vielen Leuten, welche Bücher sie bei mir vor Jahren gekauft oder in meiner Bibliothek ausgeliehen haben.
Heuer sind die Nobilistannen (aus dem Aargau) zu hoch fürs Wohnzimmer. Wir nehmen eine Nordmann aus der Region. Der Baum habe unter Hagelschlag gelitten, deshalb sei ein Ast etwas „blessiert“ und deshalb sei auch der „Tuller“ (die Spitze) etwas krumm. Wir kaufen sie trotzdem. Auch wir sind ja nicht unverhagelt durchs Jahr gekommen.

An jeder dieser Edeltannen hänge eine Leiche, wird später meine Tochter von einem Arbeitskollegen (Smartphonebesitzer) aufgeklärt, es sei diejenige des georgischen Samenpflückers.
Der Tannenbaumverkäufer vor dem Orangen Riesen glaubt nicht, dass das auf seine Bäume zutrifft. Sie seinen allesamt aus der Schweiz, ja, sogar aus dem Kanton Bern und er glaube nicht, dass da georgische Samen im Spiel seien.
So oder so ist der Kauf ökologisch unkorrekt. Das sehe ich ein, nachdem man mich auf einen entsprechenden Radiobericht hinweist. Besonders die Nordmanntanne sei in der Aufzucht keineswegs genügsam. Sie wolle als werdender Christbaum gehätschelt und gepätschelt werden, wachse nur langsam, sei krankheitsanfällig und ein richtiger Finöggel, der nach bestem Boden verlange, auf welchem gescheiter Salat und anderes Essbares angepflanzt würde. Nach Tanne rieche sie auch nicht.

Also nobis Nobilis und Nordmann fürs nächste Jahr?
Niemals möchte ich ein Sargnagel der armen georgischen Samenpflücker sein. Nächste Weihnachten schmücken wir eines der zahlreichen Buchen- oder Eichengrotzli aus dem Wald hinter dem Block. Deren blutte Äste seien ohnehin historischer als die genadelten, habe ich gelesen. Das Thema muss am Familientisch besprochen werden.

Linda

Zeichnungen aus der Basisstufe 1, 2013 (Kindergarten bis 2. Klasse)

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Vielmehr als das Schweizer Wort des Jahres 2013 beeindruckt mich das Wort „Tischarchitektur“, welchem ich in diesem Monat auf weihnächtlichen Lifestyleseiten begegne.
Als ich vor einigen Wochen Freunde besuchte, sie waren eben umgezogen, hatten wir meiner Meinung nach eine „Tischarchitektur“-Diskussion. Mit ihnen zügelte nämlich auch ihr ovaler Nussbaumholztisch. Nun waren sie überzeugt, dass das antike Möbelstück nicht mehr auf den modernen teppichfreien Betonboden zwischen die unverputzten Betonwände passe. Da meine Freunde schon einen Esstisch aus Beton bestellt hatten, konnte ich sie nicht mehr umstimmen – leider, leider.
Erst vor Kurzem realisierte ich, dass zur „Tischarchitektur“ mehr gehört als blutte Tische. Da ich nutzlosem Wissen nicht abgeneigt bin, befasste ich mich kurz mit diesem Architekturzweig, den man pflegen solle – z.B. für Feste und wenn der Chef zum Essen komme.
Hoffentlich bringen wir bis Weihnachten diese Architektur ein bisschen hin: naturverbunden, archaisch, taktil, elegant, stylisch, funktional, futuristisch, amorph (?), anspruchsvoll komplex, sinnlich inspirierend, expressiv, dynamisch mit choreographierter Schönheit (Werbung Rosenthal und Ritzenhoff).

Einen besinnlichen 3. Adventsabend wünsche ich!

Hooch hinauf
Foto: Driss Manchoube, Frühling 1987

Auch vor dem Geburtstag meiner jüngeren Tochter am 10. Dezember öffne ich Archivschachtel, blättere in Alben und Zeichnungen, lese Briefe in ihrer grossen schwungvollen Schrift mit meist ähnlichem Schlusssatz: „Liebe Ima, ich rufe dich vor dem Kino (bevor der Bus, der Zug fährt, die Schule anfängt, nach der Flötenstunde, dem Essen, den Aufgaben) schnell an, damit du mir bitte, bitte, bitte die Erlaubnis gibst …“

Als Alleinerziehende sieht man wahrscheinlich besonders gerne Fotos, auf welchen die Kinder glücklich sind.
Weit und breit war ich die einzige Mutter, die kein Haustier erlaubte, obwohl in allen Erziehungsbüchern zu lesen war und in Müttergruppen diskutiert wurde, dass die Verantwortung und der Respekt für so ein Tierchen zentral wichtig sei im Bezug auf die kindliche sozialemotionalgeistige Entwicklung.
Weder Hund, noch Katz‘, Vogel, Schildkröte, Maus, Kaninchen, Hamster, Meerschwein, Fisch wurden Familienmitglieder im 13. Stock. (Ganz klar, dass ich verantwortungsbewusst und respektvoll zu den Ferientieren schaute, welche mein Kind grosszügig aufnahm.)

Inzwischen ist aus dem Hochhauskind ohne Haustier eine engagierte, verantwortungsbewusste, sozial kompetente und mitfühlende Heilpädagogin geworden.
Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, und ich wünsche viel Glück fürs neue Lebensjahr!

Kinderspiel
Foto: Driss Manchoube, 09.1983

Vor dem Geburtstag meiner älteren Tochter am 6. Dezember öffne ich Archivschachtel, blättere in Alben, lese Briefe in Schriften von erstem Kraxel bis zierlich hingeworfen mit dem Schlusssatz: „Liebe Ima, ich hoffe, du kannst meine Schrift entziffern.“
Nein, muss ich mir eingestehen, aber macht nichts, die Blätter sind dekorativ und oft mit kleinen Skizzen verziert.

Dieses Foto habe ich besonders gern. Wahrscheinlich deshalb, weil es eine schöne Seite des Block-Lebens zeigt – viele Kinder, eine Menge verkehrsfreien Platz und in der Nähe von Klo und Kühlschrank.

Inzwischen hat sich vieles verändert, aber wie vor dreissig Jahren ist es wichtig, dass das Seil zuverlässig geschlagen wird und man „drinnen“ genug Raum zum „Gumpen“ hat.

Herzlichen Dank für das unvergessliche Fest im „Beaulieu“, das du, liebe Tochter, will man einem Mitglied der Familie glauben, gewählt hast, weil es wie „Banlieue“ klingt.

Eis auf Neufundland
(Fotos vom 6. April 2013, Flug Paris – Houston, TX)

In dieser „Class“ bin ich schnell als Flug-Greenhorn zu identifizieren, denn niemand klebt so lange und dicht am Fenster, wie ich. Zwölf Kilometer unter mir liegen – so weit das Auge reicht und scheinbar menschenleer – die Gletscher, zugefrorenen Seen und Flüsse von Neufundland. Da ist bin ich schon froh, wenn alle Luftteilchen vorbildlich um die Tragflächen strömen.

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Eine Gruppe Jugendlicher springt um mich herum, als ich gegen Mittag aus dem Tram steige. Die Knaben lachen und stossen sich gegenseitig, tragen trotz der Kälte weder Mützen noch Jacken. Dazu gehört ein dünnes Mädchen mit Brille, welches sich an dem Gejohle nicht beteiligt.

Ich: „Tschou zäme. Isch öppis? Heit dr eigentlech ke Schuel?“
Jugendliche: „Momol, mir hei e-n-Uftrag, aber mir säge nüt. Säg nüt, Tschännu.“
I: „Säget nume, was dr z’säge heit. Es lütet ja gly.“
J: „Auso, mir säges: ‚Dir sit e Schande für d’Umwält‘.“
I: „Ig, e Schand für d’Umwält?“
J: „Ja.“
I: „U de dir, was syt de dir? Späteschtens we dir de so alt sit wie-n-i, sit de dir o e Schande für d’Umwält.“
J: „Mir meine gar nid richtig öich, äs isch nume Gspass.“
I: „Das söll e Gspass sy? Wie chömet dr druuf?“
J: „Dr Äbdu het Geburtstag u het sech gwünscht, dass mir emene Erwachsene gö ga säge ‚Dir sit e Schande für d’Umwält.“
I: „Das isch em Äbduh si Geburtstagswunsch? Säget das enang nie, das isch eifach gemein. Mir macht das nüt us, i kenne Ching wi dir sit guet. I dr weute Klass sit dr?“
J: „I dr Füfte, bir Frou Käller Veronica.“
I: „Göt iz ine, süsch erfrüret dr no. Tschou zäme, es anders Mal.“
J: „Adiö, e schöne Tag no.“

Die Knaben und das Mädchen kraxeln den Hügel hinauf, hinter welchem das Schulhaus liegt. „Das isch e huere Nätti“, höre ich sie sagen.

Eine Gruppe von sieben Fünftklässlern darf den Unterricht verlassen, um auf der Strasse einer fremden Person zu sagen, sie sei eine Schande für die Umwelt, weil sich das ein Schüler zu seinem Geburtstag wünscht?
Obwohl es in meinem Umfeld von Lehrerinnen und Lehrern nur so wimmelt und ich selber Jahre in und um Schulen verbracht habe, wird mir diese Institution immer fremder.

Die letzten zwei Wochen sass mir der Schnee hartnäckig im rechten Sprunggelenk, bis er sich dann endlich entschloss, sich auf der übrigen Welt zu verteilen.

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Pfännchen und Kuchenformen aus Kupfer, HolzlöffelTellerTassen aus aller Welt, Gläser mit getrockneten FrüchtenKernenTeigwaren, Körbchen mit Kräutern, BlumenSalzteigkränzchen, ZwiebelKnoblauchzöpfe sind ein hübscher Schmuck für Küchen.
Ich habe die Kennedys. Ewigjung und strahlend lächeln sie seit einigen Jahren hinter meinem Kellentopf hervor.

Erst zu dritt

In einer noch TV-losen Zeit, zwischen den hintersten Ausläufern des Langen Berges, gab es 1963 mindestens zwei treue JFK-Fans: den Bastler dieses Werks – Illustriertenseiten in Zinn gerahmt – (evtl. Albert?) und meine Mutter, die das Bild jahrelang hütete.

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Es gibt immer wieder Situationen, in welchen ich mir besonders alt vorkomme. Zum Beispiel bei einem zufälligen Blick auf den Komposthaufen nach dem Kochunterricht. Ich weiss, es ist mega uncool, sich Gedanken über weggeworfenes Brot, Spaghetti, frische Salatblätter, dicke Kartoffelschalen zu machen. Auch Sparschäler (in der Schweiz erfunden), Frischhaltebeutel, leckere Speisen aus Resten sollte ich vergessen. Immerhin lernen die Schülerinnen und Schüler, dass man alles, was übrig bleibt, in die Kompostkiste werfen kann. So wird in der nächsten Generation die Zahl der verstopften Kloschüsseln hoffentlich etwas abnehmen.

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Heute früh in der Warteschlange der Orangen-Riesen-Kasse – vor mir ein kräftiger junger Bauarbeiter mit Znünisandwich und Eisteebeutel – werden auf dem Werbebildschirm gerade die Eishockey-Schlittschuhe der Marke Synergy EQ20 und der Tiefschutz Sher-Wood Junior vorgeführt. Als ich an der Reihe bin, gibt’s auf dem Schirm Werbung für Anti-Aging-Creme von Natural Cosmetics, anschliessend eine für superelastische Stützstrumpfhosen der Marke Compact und den Entlastungs-BH Anita.
Bis hierhin mache ich mir noch keine Gedanken, denn ich habe mit Cumuluskarte, Bankkarte, Kassenbon und den Mega-Win-Briefchen mitüüri genug zu tun. Als aber die schwangere Frau hinter mir ihre Ware aufs Band zu legen beginnt und nun Babyölflaschen in Form von gelben Entchen über den Bildschirm hüpfen, Wickelkommoden mit doppelten Cumuluspunkten bis 31.12.13 und Pedic-Spray für geschwollene Beine angepriesen werden, habe ich doch ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
Mit einem Auge schaue ich auf den Bildschirm, denn nun ist mein muslimischer Nachbar daran, das Band zu beladen. Anstatt Entchen und Kommoden gibt’s die 12er Packung Kichererbsen, den gefrorenen Lammrücken, den 5kg Sack Budgetzwiebeln und – geit’s eigentlech no?? – die neue Herbstcollection mit den Kopftüchern Leyla, Orient, Nuria, Mariam.

Ist das ein böser Traum oder einfach nur ein neuer gäbiger Dienst an der Kundin und dem Kunden?

Herbstfarben gebunden

Was ich nach der Pensionierung so tue, werde ich oft gefragt. Ja, was tue ich eigentlich? Jedenfalls kaum etwas, was am Ende des Tages vorzuweisen ist. Ich höre dem Herbstwind zu, wie er um meinen „Turm“ braust und an den Fenstern und Türen rüttelt, ordne die Bilder, auf welchen ich versuchte, die Herbstfarben einzufangen, gratiniere den letzten Fenchel aus dem Garten, koche eine Suppe aus grünem Kürbis zusammen mit Sellerie, Lauch, Kartoffeln, Knoblauch, Zwiebeln und Kräutern, umwuselt von wissbegierigen Kleinkrähen. Daneben gibst noch dieses und jenes zu tun. Schon lange habe ich mir vorgenommen, so einen Tag zu protokollieren, damit ich besser weiss, was ich den Leuten sagen kann. Manchmal tun sie mir richtig Leid, wenn ich ihnen nichts Aufregendes aus meinem Nacherwerbsleben erzählen kann.

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Herbstsonne 2013

Ausblick von meiner Sonnenbank, 25.10.13, 18:48

Evening red and morning gray speed the traveler on his way

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Ob ich schon ein originelles Mitbringsel für den morgigen Besuch bei Freunden hätte, werde ich am Familientisch gefragt. Ich weiche der Frage aus und erzähle, dass der Hibiskus, den ich ihnen im Juni mitgebracht hatte, den Umzug in die Neubauwohnung ohne jegliche Blühhemmung überstanden habe.
Nun ist wieder etwas „Originelles“ gefragt. Brot und Salz? Nein, auf keinen Fall, meint meine Tochter T., davon haben die Freunde sicher mehr als genug erhalten. Sie spreche aus Erfahrung, denn in ihrem Quartier werde bei Umzügen Salz und Brot verschenkt. Wobei man besonders das Holzbrett, worauf die Gabe arrangiert sei, gut gebrauchen könne. Sicher sei’s mit diesem Brauch auch im Mattenhof ähnlich wie in der Länggasse. Also eher nicht Brot und Salz. Besser ein Buch, evtl. etwas Brasilianisches im Rückblick auf die Buchmesse? Nicht originell. Dann doch den Granatapfel, den ich im türkischen Laden gekauft habe. Eventuell auf einem Teller Pistazien aus biologischem Anbau und fairem Handel? Etwas zu originell, ausserdem fehlen meinem Apfel zwei Zacken im Blütenkrönchen, was nicht soo gut aussieht. Könnte sein, dass ich den Freunden damit mehr Mühe als Vergnügen beim Öffnen von Frucht und Kern bereite? Wie wärs mit Haus-Pralinen aus der Quartier-Bäckerei-Konditorei? Meine Familie ist skeptisch, denn verglichen mit Sprüngli & Co. sei diese Bethlehem-Schoggi doch sehr gewöhnlich und fein sei anders. „Das ist eben das Originelle,“ halte ich entgegen: „Aus der Region, für die Region, weit weg von Sprünglis, Eichenbergers, Tschirrens – einfach nur der reine Geschmack des Gewöhnlichen.“
Am folgenden Tag überbringe ich eine Schachtel Pralinen, eingewickelt in rotes Rosengeschenkpapier, verschnürt mit einem rotweissen Band. Meine sozialdemokratischen Freunde freuen sich – die Rose hat man ihnen ja längst aus der Faust genommen – wickeln aus, finden die Truffes wunderbar lecker. Nein, nein, ihr Geschmack sei gar nicht auf Sprüngli & Co. beschränkt. „So etwas kaufen wir meist zum Verschenken.“

Mond im Westen

Abnehmender Mond 07:20 von meinem Balkon aus gesehen.

In meinen Büchern gesucht. Viele gefunden.
Hier eine kleine Auswahl:

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Halva – Eine weitere Geschichte, gesammelt von 1st, Mai 2002, erzählt von dem Mädchen L., das wir nach seiner fünfjährigen Flucht aus dem Irak in unsere Familie aufgenommen hatten.

Als ich in Griechenland in Veria im Gefängnis ankam, wollte ich Halva essen. Wir hatten sie in der Türkei gekauft und mit uns den ganzen mühsamen Weg geschleppt. Wir hatten sie noch dabei, als die griechischen Soldaten uns an der Grenze schnappten. Eigentlich wollten wir früh morgens mit einem Plastikboot zusammen mit 30 Leuten nach Griechenland fahren.
Ich bin froh, dass die Soldaten vorher gekommen sind, denn wir mussten eine Nacht lang still im kalten Wasser ausharren. Ich spürte meine Beine nicht mehr. Es sind schon viele Männer, Frauen und Kinder umgekommen, und die Fische haben sie gefressen. Wenn die Kurden nicht mehr flüchten, gibt es in Griechenland keine Fische mehr.
Im Gefängnis spürte ich also einen toten Hunger. Ich biss in die Halva, biss auf etwas Hartes – es war ein grosser Fingernagel von einem Mann.
Sie haben ihn extra reingetan.
Ich schwöre dir ….

Kommentare wie der heutige Es ist unsere Schande auf der Bund-Titelseite von Stephan Israel regen mich weniger auf als früher (als ich über unsere Schande 9/11 gelesen habe, hat mir das noch den Schlaf geraubt). Aber sie bereiten mir nach wie vor Mühe, vor allem, wenn im Zusammenhang mit dem Schock um so viele Tote noch das Wort „scheinheilig“ fällt, was häufig dazugehört.

Es ist richtig, wir haben uns als Schweiz immer wieder mit falschen Entscheidungen auseinanderzusetzen: Mit Abgewiesenen, im Nationalsozialismus Verfolgten. Mit Abstimmungsergebnissen, die Mitbürger und Mitbürgerinnen ungleich machen.

Aber ich verstehe es nicht, wenn in Kommentaren unser Verhalten und das unserer Politik (und der Deutschlands, ebenfalls verurteilt, da ohne Aussengrenze) so mir nichts dir nichts zur Schuld wird. Und damit nicht genug: Ob menschliches Entsetzen über die Katastrophe oder christliche Nächstenliebe mit hilflosen Helfern und Spenden als Tropfen auf den heissen Stein: Alles scheinheilig!

So selten, dass ich mich gar nicht mehr erinnern kann, lese ich über die Verantwortung der Regierungen in all den Ländern Afrikas, aus denen diese Menschen flüchten. Häufig Länder mit natürlichen Ressourcen von globalem Interesse, die weit über die unsrigen hinausgehen. Oft solche, von denen wir abhängig sind, nur schon für die Innereien unserer Smartphones. Regierungen, die ihre Bevölkerung weder schulen noch an irgend einem Geschäft teilhaben lassen. Regierungen der Südhalbkugel, die die Schuldgefühle der Nordhalbkugel gut einzusetzen wissen.

Der Kommentar bringt am Ende einige Stichworte auf, die ganz sicher in unsere politische Agenda gehörten, leider viel zu kurz. Migrationspartnerschaften mit afrikanischen Ländern sind nicht so einfach, die Schweiz ist in dieser Debatte von der Nachwuchsfinanzierung bis zu Good Governance seit Jahren vorne dabei und riskiert, sich auch hier schuldig zu machen.

Orte für den Aufenthalt von Flüchtlingen zu finden, ist auch nicht leicht – unsere alleinige Schande? Afrikanische Zugewanderte haben es hier schwer, das ist unbestritten. Seit langem versuche ich mich in Unterstützung eines Jungen aus Kenya. Und ich sehe selbst, wie vielen Vorurteilen afrikanische Menschen ausgesetzt sind. Leider sind diese nicht einfach zu widerlegen; die jedem Fortschritt zuwiderlaufende Herrschaft der Clans und die Anzahl Delinquenter in der Schweiz ist schwer wegzudiskutieren. Wir können nur differenzieren.

Die nächste Asylgesetzrevision kommt bestimmt. Und leider wird sich kaum ein Journalist mit der Umsetzung herumschlagen. Man wird in den Medien der Verschärfung und Repression einmal Verständnis und ein anderes Mal Kritik entgegenbringen. Die Integrationsartikel aus dem neuen Gesetz wird die Berichterstattung unter den Tisch fallen lassen, wie bei den beiden vergangenen Revisionen auch. Denn Integration gibt vielleicht ab und zu eine nette Basketball-mit-Kopftuch-Geschichte, alles andere ist zum Gähnen.

Ich bedaure das sehr und es reut mich auch. Ich habe ständig das Gefühl, wir verlören so viel Zeit und Menschen. Integration ist eine komplizierte, von der ganzen Gesellschaft zu gestaltende, demokratische und zukunftsweisende Aufgabe. Und was dabei herauskommt, ist immer Veränderung für alle Seiten, deshalb ist es ja so eine Zumutung. Es wäre gut, wir würden das einfach wieder mehr diskutieren, uns austauschen. In den Städten ist in jedem kleinsten Kreis in jeder Gesellschaftsschicht mindestens einer Migrant, beim Stammtisch auf dem Land serviert er mindestens das Bier. Wir sollten besser mit den Widersprüchen der Zuwanderung umgehen lernen, indem wir noch mehr nachdenken und unser Urteil abwägen. Ob Migration oder Integration: Ein jeder hat hier persönliche Herausforderungen, da müssen wir anfangen. Es ist selten eine Frage der Schuld, sondern eine Frage von Mut und Geduld.

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