Mittagsrast

Mittagsrast über der Spitze des Münsterturms in Bern am 24. April 1894:
Stadtgeometer Friedrich Brönnimann (links) mit seiner ältesten Tochter und Adjunkt Mathis (aus: ISBN 978-3-03919-116-1)

Onkel Ernst wohnte in der Kramgasse und so kam ich als Landkind oft in die Stadt. Die Grossmutter flocht mir die Zöpfe, zog mir das Sonntagsröckli an, und wir fuhren im Zug nach Bern. Zuerst strebte ich dem Caran-d’Ache-Schaufenster im Bahnhof zu. Dort bewegten sich Zwerge, Bären, Hasen in lieblichen Landschaften je nach Saison, malten an Tafeln, sassen auf Stühlchen und schrieben an kleinen Tischchen mit bunten Stiften. Dazwischen lagen nigelnagelneue Farbschachteln, Kreiden, Pinsel und Bleistifte der Firma – ein Traum für ein Landkind.
Anschliessend gingen wir unter den Lauben hinuter in die Kramgasse. Am Zytglogge stand ein Verkehrspolizist mit weissen Handschuhen auf einer Kanzel. Auch hier brachte Grossmutter mich nicht so schnell weg.

Am besten von allem aber gefiel mir der Münsterturm. Der Aufstieg über die ausgetretene Wendeltreppe und der Blick durch die schmalen offenen Fenster hinunter auf die Plattform machten mich ein bisschen schwindelig. Oben angekommen, trat ich in eine wunderbare Welt wo einem der Wind die strengen Zöpfe löste und selbst der Blick eines Kindes weit in die Runde schweifen konnte. Die liebe Turmfrau mit ihrer vorgebundenen Geldtasche und den Billetts war die Königin des luftigen Reiches.
Jahrelang war Turmfrau mein Traumberuf. Als 1999 die Stelle wieder ausgeschrieben war, dachte ich einen nostalgischen Moment lang daran, mich zu bewerben. Ich liess es dann doch bleiben, da ich hörte, dass bereits gegen hundert Bewerbungen eingegangen seien.
Nun hat der vorletzte Turmwart ein Buch zum Leben auf dem Münsterturm geschrieben, in welchem ich auch der Turmwartin meiner Kinderzeit wieder begegnete. Es ist ein liebevoller und wehmütiger Abgesang zu meinem Traumberuf. Das Residieren auf dem Turm wurde Ende März 2007 nach fast 500 Jahren aufgehoben – von einem auswärtigen Kirchmeier. Ihm fehlt eindeutig der Weitblick.

In meinem Kopf geistert immer noch „Der Turm“. Ich sitze hoch über den Häusern und die spätfrühen Nachteulen sehen mein erleuchtetes Fenster.