Gretchen und die Meerkatze

Farbholzschnitt von Felix Hoffmann (gedruckt in Aarau von der Aargauischen Buchdruckerfachschule, 1969)

Der Junge Heinrich Lee ist fasziniert von einem Wandertheater, welches im Tanzsaal des Gasthauses absteigt. Zusammen mit seinen ebenso armen Freunden versucht er, nichts von all dem Wunderbaren zu verpassen. Als Heinrich eines Abends bei der Aufführung von „Faust“ eine Meerkatze spielen darf, ist sein Glück vollkommen. Von der Gestalt Gretchens ist er so hingerissen, dass er beinahe vergisst, seine Meerkatzensprünge zu machen. Als der Vorhang fällt, schläft er hinter den Kulissen ein. Als Heinrich aufwacht, ist es stockdunkel und er ist im Saal eingeschlossen. Nun beginnt er im Orchester laut auf die Pauken zu schlagen.

Da trat sie auf mich zu, streifte meine Maske zurück, fasste mein Gesicht zwischen ihre Hände und rief, indem sie laut lachte: „Herr Gott! das ist die aufmerksame Meerkatze! Ei, Du kleiner Schalk! bist Du es, der den Lärm gemacht hat, als ob ein Gewitter im Hause wäre?“ „Ja!“ sagte ich, indem meine Augen fortwährend auf dem weissen Raume ihrer Brust hafteten und mein Herz zum ersten Male wieder so andächtig erfreut war, wie einst, wenn ich in das glänzende Feld des Abendrothes geschaut und den lieben Gott darin geahnt hatte. Dann betrachtete ich in vollkommener Ruhe ihr schönes Gesicht und gab mich unbefangen dem süssen Eindrucke ihres reizenden Mundes hin. Sie sah mich eine Weile still und ernsthaft an, dann sprach sie: „Mich dünkt, Du bist ein guter Junge; doch wenn Du einst gross geworden, wirst Du ein Lümmel sein, wie Alle!» Und hiermit schloss sie mich an sich und küsste mich mehrere Male auf meinen Mund, der nur dadurch leise bewegt wurde, dass ich heimlich, von ihren Küssen unterbrochen, ein herzliches Dankgebet an Gott richtete für das herrliche Abenteuer.
Hierauf sagte sie: „Es ist nun am besten, Du bleibest bei mir, bis es Tag ist; denn Mitternacht ist längst vorüber!“ und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch einige Thüren in ihr Zimmer, wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war. Dort ordnete sie am Fussende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und als ich darauf lag, hüllte sie sich dicht in einen sammetnen Königmantel, legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füsse gegen meine Brust, dass mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte.

Theatergeschichten – Gretchen und die Meerkatze aus: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich, Kapitel 11