Nachdem ihr ID-Ausweis geprüft worden ist, befestigt sie das Schild mit dem Aufdruck „Bibliothek“ seitlich an ihren Gürtel. Heute bekommt sie neben dem Schlüssel für Lift und Treppenhaus vom Wachmann ein schwarzes Telefon. Viel lieber hätte sie ein blaues, aber im Moment ist keines frei. Das bedeutet, dass der Arzt oder der Psychologe im Haus ist.
Im Gegensatz zum blauen darf man das schwarze Telefon nicht legen, nur stellen. Beim Legen geht gleich der Alarm los. Das Telefon meint dann, dass der Benutzer/die Benutzerin auch liegt, im schlimmsten Fall auf dem Boden – niedergeschlagen von einem Insassen.
Als sie den schwarzen „Knochen“ das erste Mal ausgehändigt bekam, legte sie ihn ahnungslos auf den Schreibtisch. Ohrenbetäubendes Schrillen! Wie, wo, was drücken? Sie stürzte durch die Gänge, lief mit dem Ungetüm ins obere Stockwerk. Auch hier menschenleer. Endlich erlöste sie ein Aufseher aus ihrer Bedrängnis, indem er einfach zum Telefon sagte: „Fridu us em Zwöite – Fäualarm vo dr Bibliothekarin.“

Früher befand sich die Gefängnisbibliothek in einer Einerzelle. Vor einigen Jahren wurden die wenigen metallenen Büchergestelle in die Korridore der Stockwerke verteilt, und in der Zelle wurden drei Gefangene einquartiert.
Der Schreibtisch der Bibliothekarin steht nun in einem Lagerraum im 2. Untergeschoss zwischen diversen Kartonschachteln mit Klopapier und Putzmitteln. Das ganze Jahr hindurch ist es dort kalt. Die Gefängnisleitung hat der Bibliothekarin angeboten, dass sie sich aus den Säcken gespendeter Kleider eine warme Arbeitsjacke aussuchen darf – immerhin.
Mit den Insassen hat die Bücherfrau kaum etwas zu tun. Einmal bat ein Gefangener um einen Filzstift. Sie überlegte kurz, was man mit einem Filzstift Schlimmes anstellen könnte und gab ihn ihm.
Die Leser werden zu bestimmten Zeiten von ihren Aufsehern zu den Gestellen begleitet oder sie können ihren Bücherwunsch auf einen Zettel schreiben. Das nützt zwar meist nichts, da die Aufseher nur flüchtig im Gestell in nächster Nähe nachschauen und dann sagen:“Haben wir nicht.“
(Die Insassinnen des Gefängnisses managen ihre Bücher selber.)

Ein Budget für Neuanschaffungen existiert nicht. Die Bibliothekarin hat die neue Direktorin noch nicht darauf angesprochen, denn das Problem ist, dass sie nicht weiss, wie sie günstig zu Büchern, Zeitschriften und Magazinen in den Sprachen der Insassen kommen könnte. Als sie vor kuzem in Prag war, fischte sie drei guterhaltene Bücher in Tschechisch aus einem Abfallkübel im Park. Regelmässige ist sie Kundin der Bücherbrockis, wo ab und zu etwas in einer „exotischen“ Sprache abgegeben wird. Dann bezahlt sie aus der eigenen Tasche. Sie wünscht sich mehr Comics und illustrierte Sprachführer, mehr albanische Bücher, überhaupt solche in den Sprachen des Balkans.
Bibeln hat sie zu Genüge. Diese bringt die Heilsarmee. Die Korane in Taschenbuchformat sind alle verschwunden. Nun hat der Imam unserer Stadt ein paar grosse, goldverzierte Exemplare gespendet, die im Persolalbüro stehen und in keine Hosentasche passen. An den Gestellen hängt nun ein Zettel mit der Info: Korane im Personalbüro verlangen.

Das Gefängnis befindet sich in einer Umbauphase. Es wurde ein Fachmann eingestellt, der jede Ecke ausleuchtet, um sie zu verbessern, wenn er sie schon nicht vergrössern kann. Er findet, dass die Bibliothek sehr „deutschlastig“ sei. Ab jetzt müssen alle handgeschriebenen Schildchen wie „Lexika“, „Gesetzbücher“, „Drogen“, „Krimis“, „Romane“, „Lebenshilfe“ mit Computer geschrieben sein. Auch sämtliche Bücherlisten und weiteren Info-Zettel („Lexika im 1. Stock“, „Drogen im 4. Stock“, „Fussball im 2. Stock“) müssen neu mit dem Computer geschrieben werden – Corporate Identity bis ins Detail.

Die Bibliothekarin leiht pro Jahr 1’000 Bücher aus. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass „die Bibliothek“ mit 5 Stunden/mtl. im ganzen Betrieb kleiner als ein Mückenschiss ist.
Eine warme Jacke hat die Bibliothekarin von zu Hause mitgebracht.