Kein Klingeln an der Tür, weder Comics noch Bücher auf dem Sofa, keine Legos, Schulhefte, Turnsachen, Schuhe, Jacken, Fussbälle auf und unter Tischen und Bänken, keine Roller, Fahrräder oder Kinderwagen vor der Wohnungstür, Kissen, Teppiche und Decken faltenlos, niemand, der hungrig zum Zvieri kommt – sie sind ausgeflogen, die Kleinkrähen in die Herbstferien mit ihren Eltern.

Das sei doch gut, meinen meine Bekannten, da könne ich mich so richtig erholen. Ganz unrecht haben sie nicht, obwohl dieses „Zeit haben“ etwas geübt werden muss. Ich ärgere mich z.B. über die lange Wartezeit auf der Post. Alle Schalter sind zäh besetzt. Eine Tochter zeigt ihrer Mutter, wie sie Geld abheben kann, aber zuerst muss der Zettel mit dem Sicherheitscode in der Handtasche gefunden werden. Eine Familie will Geld nach Ghana schicken. Es scheint ein Ausweis zu fehlen. Jemand lässt sich die neuen Briefmarken zeigen, ist auf der Suche nach „etwas Besonderem“.
Ich habe Nr. 404 gezogen. Jetzt ist 392 dran.
Heute habe ich doch Zeit zum Warten!
Nachdem ich alle Titel der Bücher im Gestell gelesen und ein Rätselheft für meine Nachbarin ausgesucht habe, blinkt endlich meine Nummer auf.
Im Laden neben der Post kaufe ich 2 Bauernbrote und 1 Ragusa.
„Macht 10.05. Haben Sie 5 Rappen?“
„Nein, leider nicht. Wer hat heute noch 5 Rappen? Ich gebe Ihnen 10, dann habe ich 5 fürs nächste Mal.“
Als ich meine Brote einpacke, spricht mich ein älterer Mann an: „Sie haben keine Fünfräppler? Hier nehmen Sie ein paar von mir.“ Er schenkt mir eine Handvoll Fünfer.
Das Rätselheft und ein Brot bringe ich meiner Nachbarin.

Am Mittag esse ich mit meiner Nichte in einem Restaurant im neuen PostParc. Wir sitzen draussen in der Sonne bei Selleriecremesuppe, Wienerli im Teig und Salat. Zum Espresso bringt die Kellnerin ein Stück Apfelkuchen: „Geschenk-“ Meine Nichte bezahlt das Essen – schon wieder Geschenk. Danke!
Im Tram treffe ich eine ehemalige Schulkollegin. Heute ist auch sie nicht in Eile, denn auch ihre Kleinkrähen mit Eltern sind ausgeflogen, an den Schwarzsee und in die Toskana. Ihr Mann, ein Biologe, sei unterwegs, um das Quaken von Fröschen in einem Stausee aufzunehmen. Also geniessen wir beide den warmen Herbsttag, schlendern über den leeren Pausenplatz und sprechen über Bücher, sie über Julie Zehs Unterleuten und ich über Jonas Lüschers Kraft, das Buch, für welches ich in diesem Jahr am meisten Zeit brauchte.
Ich gehe in den Garten, giesse die trockenen Beete, säe zwei Reihen Winterspinat, fülle die Vogeltränke mit frischem Wasser und fege das Laub zusammen.
Den Sommer über brachte der Hibiskus keine einzige Blüte hervor.

Späte Hibiskusblüte

Heute überraschte er mich mit zwei leuchtenden Blüten und einer Menge Knospen.
Geschenk – wenn auch etwas spät im Jahr.