„Wir kommen aus dem Morgenland und haben schwarze Ohren.
Die Sonne hat uns schwarz gebrannt, drum sehn wir aus wie Mohren.
Meister, gib uns Arbeit.“

Die Kindergruppe geht sprechend auf das Kind zu, welches den Meister spielt.

Meister: „Was für welche?“
Mohren: „Schöne und gute.“
Meister: „Zeigen Sie mal vor.“

Die Schwarzgebrannten zeigen die Arbeit pantomimisch.
Sobald der Meister diese erraten hat, springen die Kinder zurück. Wer vom Meister gefangen werden kann, muss bei ihm bleiben und mitraten.

Unzählige Male haben wir dieses Spiel gespielt. So übermütig und gut man zu dem Vers hüpfen konnte, blieben mir die Zeilen als Kind ein Rätsel. Würden unsere Moren mit ihren rosarotweissen Ohren im Morgenland auch schwarz gebrannt? Was können Moren (Mutterschweine) überhaupt arbeiten?
Ich glaube, ich habe das Wort „Mohr“ in meiner Kindheit nie verstanden.

Manchmal spielten wir auch „Was weit dir mache, we dr schwarz Ma chunt?“

Ein Kind fragt:
„Was weit dir mache, we dr schwarz Ma chunnt?“
Die anderen Kinder antworten:
„Usriisse u flieh!“
Sie rennen los und der schwarze Mann muss versuchen, sie vor dem abgesprochenen Ziel zu fangen.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich nie jemandem begegnet, der eine andere Hautfarbe hatte.
Ich kannte nur „das Negerli“ von der Sonntagsschule. Ich liebte es, wie es so auf der grünen Missionskasse kniete in seinem weissen Hemdchen, die Händchen zum Dank zusammengelegt und etwas erhoben. Wenn dann die Geldstücke von uns Kindern in die Kasse fielen, nickte das schwarze Kerlchen dankbar. Ohne dieses Nicken hätte mir die Sonntagsschule viel weniger gut gefallen.

Frau Käser, die Sonntagsschullehrerin, erzählte uns von den Heiden, zu welchen „das Negerli“ gehöre und wie das Reich Gottes nicht kommen könne, bevor nicht alle Heiden bekehrt seien. Das sei eine grosse und wichtige Aufgabe, diese unzähligen Heiden der Welt zu Jesus zu führen.
Über „e Huufe“ Heiden war ich sehr froh, denn ich wollte auf keinen Fall, dass ein Reich Gottes kommt. Die Sonntagsschullehrerin schien sich sehr danach zu sehnen. Mir gefiel aber nichts, was Frau Käser hatte, weder ihre gestreiften Schürzen, noch ihr Harmoniumspiel, ihre hinterhältigen Buben, die gestickten Bibelsprüche an den Wänden und besonders nicht ihr scheinheiliger Ehemann.

An einem Sonntag ohne Sonntagsschule fuhr ich mit der Grossmutter im Zug nach Bern. Am Bahnhof warteten ein Mann und eine Frau mit einem kleinen Jungen aufs Tram. Die Frau trug ein Kleid mit einem grossen, weissen Kragen, dazu Schuhe mit hohen Absätzen und einen kleinen Hut mit einem Netz vor den Augen. Der Junge war gleich gekleidet wie sein Vater: weisses Hemd, Kravatte, dunkler Anzug und glänzend schwarze Schuhe. Ich konnte es nicht fassen, ein Wunder: alle drei hatten schwarze Haut und sahen einfach wunderschön aus. Wie konnten diese fantastischen Wesen nur in ein so gewöhnlich grünes Tram einsteigen?
Grossmutter zog mich am Zopf und ärgerte sich über mein Starren, das sich einfach nicht gehöre.

Im Laufe der siebzig vergangenen Jahre kam mir diese Begegnung oft wieder in den Sinn. Irgendwie hoffte ich, einen Hinweis auf diese Familie zu finden, da es anfangs der 1950er Jahre kaum dunkelhäutige Menschen in Bern gab.
2003 recherchierte ich mit etwas magerem Ergebnis zu Vincent O. Carter. Kaum jemand schien sich für diesen Schriftsteller und Maler zu interessieren, der einmal für drei Tage nach Bern kam und dann dreissig Jahre blieb. (Einen Eintrag ins Lexikon der Berner Autorinnen und Autoren erhielt Carter von mir im Mai 2011.)

Nach dem heutigen Beitrag Berns vergessene schwarze Stimme (Bernhard Ott, Der Bund, Sa 4.Juli 2020, S. 18-19) ist es gut möglich, dass endlich ein würdiger Platz für das Archiv dieses Berners gefunden wird.

„Wir kommen aus dem Morgenland“, „Schwarzer Mann“ und „Schwarzer Peter“ spielen die Kinder heute nicht mehr.
Wenn Kleinesmädchen mir von den FreundInnen in der Kita erzählt, erwähnt sie nie deren Hautfarbe. Mit den Namen aus aller Welt hat das Kind keine Mühe. Kommt ein cooler Junge namens „Kotzbauer“ in den Geschichten vor, ist es nur die Grossmutter, welche sich krampfhaft überlegt, wie der wohl wirklich heisst.
Ja klar, dänk Godspower!

Wie schon oft geschrieben, ich komme einfach bis zur letzten Minute vom Hundertsten ins Tausendste:

Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung bietet der US-Hersteller Band Aid seine Pflästerli nun auch in mehreren dunklen Hauttönen an. „Wir sehen euch, wir hören euch zu“, schrieb das Unternehmen auf Instagram. „Wir bemühen uns, zum Kampf gegen Rassismus und einem greifbaren Wechsel beizutragen. (Gratiszeitung vor ca. 2 Wochen)

Hoffentlich ist dieser Verband auch bald in der Schweiz zu kaufen.

Einen guten Sonntag für alle und besonders für die Familienmitglieder, die irgendwie Farbe in unser Leben bringen!