Heute war es soweit, heute war ich mit 1st auf „dem Raff“. Der Gang nach Canossa führte über eisige Strassen, neben Transportfirmen und Lagerhallen in die Hinterwelt eines Industriequartiers. Die erste RAV-Station, die wir erreichten, war die falsche. Eine nette kleine Frau reckte sich über eine massive Theke uns entgegen und erklärte freundlich den Weg noch weiter in die Innereien des eiskalten Sektors. Es roch nach Spital.

Mehr schlitternd denn gehend erreichten wir schliesslich das verhasste Ziel und begaben uns hinter die Glastür in den Empfangsraum. Ausgehängte Stellenbeschreibungen, verschiedene Boxen mit Schlitzen für Formulare und ein Computer mit „SSL“ (Stellensuchleitfaden?) mit einem Ausser-Betrieb-Schild dran, sahen wir dort.

Hinter der kurzen Schlange erwartete uns wieder eine freundliche Dame, hell gekleidet, straff gekämmt und einer Krankenschwester ähnlich. Sie gab 1st lächelnd ein gelbes Blatt ab, das 1st ausfüllen sollte. Wir merkten, dass 1st nicht so viele Kreuze zu setzen hatte. Einerseits positiv, weil all die Fragen nach den Aufenthaltsbewilligungen für sie als Eingeborene wegfallen, andererseits negativ, weil jemand mit Lehrabschluss eines älteren Jahrgangs genau zwei Kreuze von sieben setzen kann. Es erginge mir nicht anders.

Grundschule [ja] / Berufsschule [ja] / Matura [nein] / Diplommittelschule [nein]/ höhere Fach- und Berufsprüfung [nein] / Fachhochschulabschluss [nein] / Universitätsabschluss [nein]

Dafür konnte 1st neben Französisch und Englisch mit Ivrith noch eine dritte Sprache angeben, immerhin etwas. Einem Wohnortswechsel für eine neue Anstellung konnte sie nicht zustimmen, Schichtarbeit und Nachtarbeit wären sträflich für ihre Gesundheit.

Mit dem Formular zurück zur netten namenlosen Dame am Schalter. Sie zeigte eine Auswahl von Arbeitslosenkassen, 1st wählte schnell, die Dame konnte vorwärts machen. Freundlich gab sie 1st einen Termin für eine vierstündige Einführung über die RAV, ebenso freundlich reichte sie einem bellenden Vorgesetzten seine Post.

Wirklich, es war alles ganz genau wie beim Arzt. Professionell, nett, wertfrei und die Nächste bitte. Ich fragte nach dem Namen der Schwester der Sachbearbeiterin und sie zögerte nur eine Sekunde und gab ihn mir. Ich dankte und sagte, dass sie bestimmt absichtlich nicht angeschrieben sei und sie nickte lächelnd.

Wir quälten uns wieder durch die bisigen Strassen, zwischen den Lastwagen dem Wellblech entlang bis zum nächsten Bus, der höchstens jede halbe Stunde fährt. Ich dachte laut darüber nach, dass die Spitalatmosphäre mit der Stationsschwesternfront vielleicht das einzig richtige sei für Menschen in Existenzangst. Denn was hinter dieser Angst stehe, wie viele Absagen, wie viele Ungerechtigkeiten, wie viel Willkür, welche Krankheiten, welches ganze Schicksal, das könne niemand ermessen und schon gar nicht reagieren darauf. Einfach nur lächelnd Formulare erklären sei vielleicht nicht das Dümmste.

Aber ich hatte leicht reden, ich war ja nur die Begleitung.