Neben mir im „Habicht“ sitzt eine kleine sehr alte Frau auf einem Kissen. Ein weiteres Kissen stützt ihren Rücken. Die Kellnerin hat ihr den Rest des Gratins eingepackt: „Das können Sie ja zum Zvieri essen.“
Sie sei zum ersten Mal in diesem netten Restaurant, obwohl sie nicht weit weg über dem Bärengraben wohne. Behend erhebt sich die alte Frau, will nicht, dass man ihr Platz macht. Und während sie sich aus der Eckbank „fädelt“, erzählt sie ihre Geschichte.
Sie sei zwar über neunzig, aber zum Glück noch sehr beweglich. Mit 88 habe sie das Eggishorn bestiegen. Dann sei aber Schluss gewesen, ein bisschen traurig, aber so schön in der Erinnerung. Ihr erster grosser Traumberg war das Matterhorn. Dafür habe sie sich in Zermatt akklimatisiert, sei jeden Tag in der dünnen Luft gewandert und geklettet. Dann, eines Morgens, als das Wetter günstig war, sei sie mit dem Bergführer Bruno in der Dunkelheit aufgestiegen über den Hörnligrat zum Gipfel, einfach unvergesslich und unbeschreiblich. Noch heute sei der Berg eine alpine Herausforderung und werde leider völlig unterschätzt.
Als jüngste von vier Kindern sei sie ledig geblieben. Sie habe sich ganz dem Bergsteigen gewidmet, was mit einer Familie nicht möglich gewesen wäre. Über die Zeit, als die Frauen aus dem Schweizerischen Alpenclub ausgeschlossen blieben kann sie hinterher nur lachen. „Die Männer waren doch nur eifersüchtig.“
Ihre junge Begleiterin, eine Bergkameradin, bringt ihr das Mäntelchen. Ohne hinzuschauen schnallt die Pionierin die Gurtschnalle zu, greift nach dem Eispickel Stock, verstaut die in Alufolie eingepackte Wegzehrung im Beutelchen und macht sich leichten Schrittes und blitzenden Auges auf den Heimweg. Nicht, ohne gedankt zu haben für offenes Ohr, Interesse und Sachverstand.

(Gründung des SAC 1863, Ausschluss der Frauen 1907, 1918 gründen die Frauen einen eigenen Verein SFAC, Zusammenschluss 1979, Fusion tritt 1980 in Kraft)