Umgraben

Wenn der Glockenturm im Quartier „Im Märzen der Bauer die Rösslein …“ spielt, ist es höchste Zeit, auch zu graben und zu rechen.
Nicht nur die Melodie des Glockenturms ermahnt mich, den rechtzeitigen ersten „Spatenstich“ nicht zu verpassen. Auch Walter von der Kompostgruppe ruft bei mir an, meldet, dass gerade noch ein „Anhängerli“ reifer Kompost für mich als gute Kundin bereit stehe. Die Leute rennten ihm die Walme ein, so begehrt sei dieses Gartengold. Junge aus anderen Quartieren – am Samstag sogar solche aus der Länggasse – seien gekommmen, um Kompost zu kaufen. (25 l à Fr. 2.-).
Ich verteile sorgfältig zwischen Himbeeren, Johannis- und Stachelbeeren, Tulpen, um Rosensträucher, Bäume, und zwischen die leuchtend roten Rhabarber-„Knöpfe“, die Lilien und Pfingstrosen und den noch schlafenden Sonnenhut erhalten auch eine Handvoll. Ob dieses oder jenes den Winter gut überstanden hat? Von den Hosten ist noch nichts zu sehen. Ich lege etwas Reisig über die frisch in die Restkälte gepflanzten Kefen und führe natürlich auch wieder unvermeidliche Gespräche durch den Zaun.

Später balanciere ich im Restaurant des orangen Riesen eine Schale und ein Weggli zwischen den gut besetzten Tischen hindurch. Die alt eingesessenen Frauen aus meinem früheren Quartier grüssen und winken von weitem. Ich setzte mich zu ihnen: „Ja, ja, die gute Frau M. ist uns untreu geworden, hat uns verlassen.“ Nun muss ich sagen: „Nein, nein, ich freue mich immer sehr, euch alle zu sehen. Wie geht es euch?“ „Jede von uns hat nun einen Stock,“ vernehme ich. Tatsächlich liegen, stehen und hängen die fünf Stöcke neben den Alten in den Farben schwarz, grau und weiss. Nur Frau Jakobs ist verwegen bronzen, wie ihre Brillenfassung. Die Brille sei neu, aber die Augen würden halt immer schlechter. Auch mit den Fingern sei etwas nicht in Ordnung, eine seltene Allegie. Oh, Frau Jakob! Sie sieht mich an wie eine traurige Schildkröte. Frau Zahler ist beim Wandern in Arosa trotz gutem Schuhwerk gestürzt und hat nun Schmerzen im Steissbein. Den Stock hofft sie in vierzehn Tagen noch für einmal los zu werden. Sie freut sich auf ihr drittes Urenkelkind. Schon fünf Jahre ist es her, seit Frau Bürrikofers Mann gestorben ist. Auch Frau Martin lebt nicht mehr. Der Tod ihres Sohnes hat ihr den Rest gegeben. Frau Aebischer aus der Nummer 36, die, welche immer mitgeholfen hat, die Gemeindesuppe zu kochen, ist in der Wangenmatte. So etwas Sturmes. In diesem Heim können sie die alten Nachbarinnen nicht besuchen, zu umständlich. Auch Frau Dubach ist von uns gegangen, vernehme ich. Zwei Mal in der Wohnung hingefallen und dann von den Kindern ins Heim platziert. Frau Zahler hat sie in ihrem Zimmer zuhinterst im Gang besucht. „Ich ging an den übrigen Zimmern vorbei. Alle Türen standen offen. Ich sah die Beine der alten Leute und alle riefen aus ihren Betten ‚Hallo? Hallo?‘. Mir graut davor, auch einmal so in der Warteschlaufe zu liegen.“ Frau Frei ist auch gestorben und der Maienfisch, der immer auf die Alterswanderungen mit kam, ist schon lange tot.
Wir schauen in unsere halbleeren Kaffeetassen und beschliessen, froh zu sein, solange wir noch jeden Tag mit oder ohne Stock auf die Beine kommen.
„Das war jetzt echt schön und hat gut getan“, sagen wir zueinander. Frau Zahler und ich bleiben noch ein bisschen sitzen.