Ja, lieber Zürcher, du hast recht, die Welt ist voller abgedroschener Klischees. Das vom erfolglosen Autoren aus der Grossstadt, der sich in Provinzblättern mit Kolumnen über Kleinstädte sein Brot verdienen muss – nur so als Beispiel. Das vom Zürcher, der ausser Zürich und vielleicht noch Graubünden nichts kennt von der Schweiz. Wie er in weiser Vorahnung schreibt: die Realität ist komplizierter als das Klischee. Darum:

1. Bethlehem war für mich bisher, was es für die meisten Nichtberner ist: eine berühmte Bausünde.
Nein. Schon in den 50er-Jahren war das Tscharnergut eine Musterbeispiel für verdichtetes Wohnen, wie es heute wieder en vogue ist. Auch im Gäbelbach und im Bethlehemacker wurden viele Ideen von Le Corbusier umgesetzt, was die Siedlung nach wie vor zu einem beliebten Anschauungsobjekt von Architekturstudenten macht.

2. Eine Horrorvision, die wie ein Phantomgebirge am Horizont auftaucht, wenn man mit dem Zug ins Oberland fährt.
Was man dort sieht, sind die Hochhäuser der Siedlung Wittigkofen. Das liegt ganz im Osten der Stadt und ist zu einem grossen Teil Wohneigentum. Bethlehem liegt im Westen.

3. Die Bushaltestelle heisst malerisch «Bethlehem-Säge», ist aber umzingelt von Einkaufskolossen.
Das grösste Gebäude, das dort zu sehen ist, beherbergt das Brockenhaus der Heilsarmee. Ferner sind eine Textilreinigung zu sehen und ein Coiffeursalon sowie einige Wohnhäuser mit drei bis fünf Stockwerken.

4. Und in der Bethlehemstrasse sieht es aus wie in den Zürcher Slums: triste Reihenhäuser mit Satellitenschüsseln auf dem Balkon; überall Nachwuchs-Hooligans, denen man besser nicht zu tief in die Augen schaut.
Hooligans? Noch nie gesehen. Die finsteren Gesellen, die der Autor gesehen haben wird, haben sich als Rapper oder Homies verkleidet. Fussball interessiert hier echt, die Kinder der Bethlehemstrasse sind wenn schon in der YB-Klasse. Verprügelt werden hauptsächlich schlechte Schriftsteller.

5. An einem der Stützpfeiler hängt die Ankündigung einer Podiumsdiskussion von vorletzter Woche: «Bethlehem unterwegs zu einem Trendquartier?»
Die erwähnte Veranstaltung hat am 29. November stattgefunden, also in der letzten Woche vor dem mutmasslichen Besuch des Autoren am „Samichlaus-Mittwoch“ (Zürcher Brauch?).

6. Hinter dem nächsten Busch lauert die Melchiorstrasse, und schlagartig bin ich wieder in der DDR, will sagen im Bethlehem-Klischee: rechts eine Art Plattenbau, links ein angeschlagener Wald mit Schnellstrasse.
Wenn wir uns ausdenken würden, was ein Zürcher so für Vorurteile mit sich herumschleppt: besser würden wir es nicht treffen.

Wir danken Ihnen.

PS. Bitte protestiert nicht bei der Zeitung, liebe engagierte Bethlehemerinnen und Bethlehemer. Wir fürchten, Richard Reich schreibt über uns, weil er pro Leserbrief bezahlt wird.