Es ist nicht anzunehmen, dass das Schriftchen in den vergangenen 130 Jahren oft gelesen wurde. Auch bezweifle ich, dass es in den nächsten hundert Jahren mehr Beachtung finden wird. So gesehen, könnte man es wegwerfen. Mein Auftrag ist zum Glück ein anderer. Ich habe es mit dem Pinsel entstaubt, ihm die umgebogenen Ecken glatt gestrichen, es katalogisiert und in einen säurefreien Umschlag gesteckt, nicht, ohne vorher einen Blick auf ein Stück Berner Sozialgeschichte zu werfen:

Im Laufe des Jahres 1876 hatten, in Folge der Liquidation der 2 Bankgesellschaften für Arbeiterwohnungen in der Länggass und Lorraine, die Mietzinse für derartige Wohnungen, besonders in diesen Quartieren, einen ganz unerhörten Preis erreicht.
In der Länggasse war mit einem Schlage der Miethzins für zwei Zimmer mit Küche von Fr. 300 auf Fr. 400 erhöht worden und in der Lorraine wurde für 1 Zimmer mit Küche Fr. 300 bis 320 jährlich gefordert und zwar vielfach für Lokale wie sie gesundheitsschädlicher nicht wohl gedacht werden können.

Die Häuser des Lorraineschänzli enthalten 34 gesunde und billige Wohnungen. Im Mai 1877 waren bereits 5 Wohnungen vermietet. Für die restlichen 29 bewarben sich gegen 80 Parteien. Viele Armengenössige der Stadt gehörten zu den „wenig empfehlenswerthen Mietern“.
Aus diesem Grund wurden 3 Familien von auswärts aufgenommen.

Die Logis mit einem Zimmer sind weitaus die gesuchtesten, während diejenigen mit zwei Zimmern schon weniger begehrt sind und oft ein gelinder Zwang ausgeübt werden musste, um zahlreiche Familien zu bewegen, Logis von zwei Zimmern zu nehmen, was doch schon aus sittlichen und sanitarischen Rücksichten geboten erscheint. Noch schwieriger gestaltete sich die Vermietung der Wohnungen mit 3 Zimmern im Dachfach, und es beweist dies wohl am besten, wie die ärmere Bevölkerung unserer Stadt zu ihrem eigenen und zum Schaden des ganzen Gemeinwesens sich an dichtes Beisammenwohnen gewöhnt hat.

Aus: Erster Geschäftsbericht des Verwaltungsrathes der Aktiengesellschft für billige Wohnungen in Bern pro 1877