Ich weiss nicht mehr, welches Schicksal die frühere Lehrerin dazu zwang, als Wäscherin in einem Erziehungsheim zu arbeiten. Von Waschen, Stärken, Bügeln und Glanderieren verstand die alte Frau eine Menge. Sie bewohnte ein Zimmer unter dem Dach, welches sie regelmässig mit sauberen Zeitungen auslegte. Die meiste Zeit verbrachte sie aber in der Waschküche oder im Bügelzimmer, plättete die weissen Hemden und Blusen der Heimleiterfamilie, nahm sich der handgestickten Monogramme auf Oberleintüchern und den Spitzen von Vorhängen und Tischdecken an. Unter den Angestellten hatte Frau L. keine Freunde, sie mied die Lehrerinnen und Lehrer der internen Schule, und die Zöglinge gingen ihr aus dem Weg. Manchmal hatte sie seltsame Träume, die sie den Wäschebergen erzählte. Ging es dem Herbst entgegen, kaufte Frau L. allerlei Kindersachen. Sie machte dann kleine Päckchen, nicht schwerer als ein Kilo. Nie packte sie zwei Tigerfinkli zusammen ein. Sollte das Paket an der Grenze geöffnet werden, würde es Dieben recht geschehen, wenn sie nur ein Schuhchen fänden. Es dauerte ein paar Wochen, bis Frau L. sich entschliessen konnte, die Päckchen abzuschicken in dieses fremde und wilde Land, wo ihre Enkelkinder lebten. Danach begann ein langes Warten. Werden die Tigerfinkli, Leibchen und Socken ankommen?
Welche Freude und welcher Stolz, wenn Dankesbriefe, Zeichnungen und Fotos gegen den Frühling die Schweiz erreichten. Nur sehr wenige durften einen Blick auf die kostbare Post werfen. Und nur wenige Auserwählte durften eine gefüllte Dattel aus dem Zweistromland probieren.

Nach und nach vernahm ich, dass Frau L. eine Tochter hatte: Ruthi, ihr Augenstern. Sie zeigte mir ein schwarz-weisses Foto mit einer Familie beim Picknik an einem Fluss. Das sei am Tigris aufgenommen worden.
Frau L. erzählte mir dann, wie ihre Tochter in ein Land kam, dessen Name ich noch nie vorher gehört hatte.

Ruthi machte in Bern eine Lehre als Schneiderin. Auf ihrem Weg zur Arbeit begegnete sie regelmässig einem Studenten, welcher an der Uni Bern Geologie studierte. Bald begannen sich die beiden zu grüssen. Einmal gab es eine Menschenansammlung am Bubenbergplatz. „Kommen Sie Fräulein, ich mache Ihnen Bahn“, sagte der Student zu der jungen Frau und führte sie durch die Menge. Und auf der anderen Strassenseite angekommen: „Kommen Sie mit mir in mein fremdes Land und werden Sie meine Frau.“
Ruthi verlangte eine kurze Bedenkzeit und sagte dann ja. In den ausgehenden Fünfzigerjahren war das Land unter Quasim alles andere als ein Traumland für eine junge Schweizerin. Als ihr Mann als Geologe auf entfernten Erdölfeldern Arbeit fand, musste sie allein zurecht kommen in einer fremden und gefährlichen Stadt.

Wahrscheinlich war ich die Einzige im Heim, die sich für Frau L.s Geschichten interessierte und mitfieberte, ob die immer grösser werdenden Finken die Stadt am Tigris erreichen würden.

Viele Jahre später besuchte ich um die Weihnachtszeit in Bern eine Ballettaufführung.
Prinz Nussknacker war blond und blauäugig, seiner Grossmutter wie aus dem Gesicht geschnitten und den Tigerfinkli längst entwachsen.

In meiner Tageszeitung unter „Gratulationen“ lese ich, dass Ruthi ihren achzigsten Geburtstag feiern konnte. Herzliche Glückwünsche!